- Dieser Jeside kämpft gegen die IS-Massaker in Syrien
Der deutsche Zahnarzt Ali Khalaf ist Jeside. Das Leiden seiner Verwandten in Syrien bekommt er live übers Handy mit. Er versucht alles, um ihnen von Deutschland aus zu helfen
Die Weltpolitik kommt selten nach Bad Salzuflen. Mitte August jedoch, an einem bewölkten Freitagnachmittag, demonstrieren plötzlich 500 Jesiden in der Kleinstadt. Ostwestfalen ist eine Hochburg der Religionsgemeinschaft in Deutschland. „Stoppt den Isis-Terror“, skandieren die Menschen. Grün-rot-gelbe Fahnen wehen auf dem mittelalterlichen Salzhof.
Am Rande steht Ali Khalaf, 41 Jahre alt. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug und hat einen weißen Knopf im Ohr. Eigentlich telefoniert er schon den ganzen Tag. Immer wieder erreichen ihn Hilferufe aus seiner Heimat. Khalaf versucht über einen Gewährsmann ins Auswärtige Amt und in die US-Botschaft vorzudringen. „Warum tun die nichts?“, fragt er verzweifelt. In Kocho, einem Dorf im Irak, haben die Milizen des neu gegründeten Islamistenstaats schon vor Tagen die Jesiden zusammengetrieben. Ali Khalaf bekommt das mit, live über sein Handy. Massaker in Zeiten der Globalisierung. „Man kann nichts mehr machen“, sagt er mit Tränen in den Augen, „die Hinrichtungen haben begonnen.“
Sigmar Gabriel traf ihn
Auf der Straße in Bad Salzuflen sprechen ihn Passanten mit „Dr. Ali“ an. Eigentlich ist er nur ein Zahnarzt mit einer kleinen Praxis an Rande der Altstadt. Im Alter von neun Jahren wurde er mit seiner Familie aus dem Irak nach Syrien vertrieben. Mit 24 floh er von dort nach Deutschland. Er erhielt Asyl und baute sich in Bad Salzuflen eine Existenz auf. Stolz ist Ali Khalaf auf seine deutsche Approbation, „natürlich“ besitze er die deutsche Staatsbürgerschaft.
Seit ihn die ersten Hilferufe aus dem Irak erreicht haben, hat Ali Khalaf eine Mission. Seine Frau und seine zwei Kinder bekommen ihn kaum noch zu Gesicht, seine Patienten behandelt ein Vertreter. Stattdessen mobilisiert er Freunde, Verwandte, Glaubensbrüder und beteiligt sich an der Gründung eines Hilfskomitees. Er wird von SPD-Chef Sigmar Gabriel empfangen und im Auswärtigen Amt von Staatssekretär Stephan Steinlein. Er organisiert Hilfslieferungen und Demonstrationen. „Ich muss das tun“, sagt er, „ich kann nicht eine Minute in meiner Praxis arbeiten.“
Das Jesidentum ist eine Religion im Schatten, älter als Islam und Christentum, eine heilige Schrift gibt es nicht. Im Irak lebt etwa die Hälfte der weltweit circa eine Million Jesiden. Dort werden sie dreifach diskriminiert. Ethnisch zählen sie zur kurdischen Minderheit, religiös leben sie in der Diaspora, politisch werden sie verfolgt. Und nicht nur im Irak, sondern auch im Iran, in Syrien und der Türkei. Die IS-Fanatiker töten sie als „Ketzer“, als „Teufelsanbeter“.
Jesiden über Jahrhunderte verfolgt
Nach Deutschland kamen die ersten Jesiden vor einem halben Jahrhundert, heute sind es 50.000 bis 100.000. „Bislang haben sie in Deutschland im Verborgenen gelebt“, sagt Ali Khalaf. Nach außen schotten sie sich ab, Hochzeiten sind nur innerhalb der Gemeinschaft erlaubt. „Wir mussten das tun“, erklärt er, die Jesiden seien über Jahrhunderte verfolgt worden, „wir mussten uns schützen.“ Aber er räumt ein, dass sich seine Religion modernisieren und öffnen müsse.
Familienangehörige von Ali Khalaf sind zusammen mit Zehntausenden anderen Jesiden ins Sindschar-Gebirge geflohen, eine Tante ist entführt worden. „Warum ist es möglich, mit den Eingeschlossenen im Berg zu telefonieren, aber nicht möglich, die IS-Terroristen zu stoppen?“, fragt er verzweifelt. Keiner tue etwas, „auch die kurdischen Peschmerga lassen uns im Stich“.
In seinem Wohnzimmer hat Khalaf ein improvisiertes Büro eingerichtet, im Fernsehen laufen via Satellit kurdische Nachrichten. „Wir müssen verhindern, dass die Jesiden vernichtet werden“, sagt er und tippt WhatsApp-Botschaften. Dann springt er auf, redet mal kurdisch, mal arabisch, mal deutsch. „Was haben Sie für Infos?“, ruft er ins Telefon. „Melden Sie sich, wenn Sie was wissen, auch von den Amerikanern, damit wir die Angehörigen beruhigen können.“
„Die Kurden bekommen Waffen, aber uns hilft keiner“
Das Massaker im Sindschar-Gebirge konnte zunächst abgewendet werden, aber das Morden geht weiter. In Kocho sterben mindestens 80 Jesiden. Ali Khalaf steht in Bad Salzuflen auf dem gepflasterten Salzhof und berichtet den Demonstranten von den Hinrichtungen. „Hawara“, ruft er ihnen zu, ein kurdischer Trauerschrei.
„Die Kurden verfolgen eine dreckige Strategie“, sagt Ali Khalaf, „die bekommen jetzt ihre Waffen, aber uns hilft keiner.“ Nur für einen Moment standen die Jesiden im Fokus. Vielleicht lasse sich die Aufmerksamkeit nutzen, hofft er, vielleicht helfe Deutschland, vielleicht richteten die Vereinten Nationen eine Schutzzone ein, um zumindest die jesidischen Heiligtümer in Lalisch zu schützen.
Ali Khalaf wird weiter telefonieren, und er will wieder nach Berlin fahren. Die Erwartungen an die Bundesregierung sind riesig. Die Demonstranten in Bad Salzuflen beschwören nicht nur die „internationale Solidarität“, sondern rufen auch „Danke, Deutschland“. „Es ist ein Drama“, sagt Dr. Ali. Wann er in seine Zahnarztpraxis zurückkehrt, weiß er nicht.
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