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Ein Schiff wird kommen: Im September findet in Venedig erstmals seit dem Lockdown ein Filmfestival vor Publikum statt / dpa

Filmfestivals in Corona-Zeiten - Zusammen streamt man weniger allein

In Pandemiezeiten werden Filmfestivals reihenweise abgesagt oder finden online statt. Venedig will ein Zeichen setzen und seine 77. Ausgabe physisch abhalten - live und in Farbe, mit echten Schweißperlen vom Lido. Kann das funktionieren?

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Marga Boehle ist Journalistin und Filmkritikerin. Boehle war Mitglied im Auswahlkomitee der Berlinale. Sie lebt in München.

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Wer schon mal mehrmals täglich dicht gedrängt in den Schlangen vor den Kinos in Cannes angestanden ist, weiß, dass das in Corona-Zeiten nicht gut kommt. Keinen wunderte es also, als das bedeutendste Filmfest der Welt im Mai abgesagt wurde.

Die Berlinale war im Februar gerade noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen – nicht auszudenken, ein Virusausbruch in den vollen Kinosälen und Partylocations. Die Teilnehmer aus China und anderen asiatischen Ländern hatten ihre Stände beim gleichzeitig stattfindenden European Film Market storniert, aber noch war man relativ unbedarft … Es war das letzte, noch halbwegs unbeschwerte Zusammensein der Film-Community im Februar, wenn auch überschattet vom Anschlag in Hanau.

Der Berlinale springt der Sponsor ab

Wie es mit Deutschlands A-Festival, dem größten Publikumsfilmfest weltweit, weitergehen wird, muss sich zeigen. Auch jenseits eines wohl auf lange Zeit von Einschränkungen bestimmten Festivalbetriebs gilt es, immer neue Herausforderungen zu meistern. Zuletzt sprang dem Festival nach sieben Jahren der Sponsor Audi ab. Jetzt steht der Sprung in ein Festival-Zeitalter an, das auch digital sein wird. 

Für den Cineasten ist das Jahr bestimmt vom Rhythmus der Festivals. Die nächste Lücke nach Cannes tat sich mit der Absage des Filmfest München auf. Die kreativen Macher des Sommerfestivals um Festivalchefin Diana Iljine und den künstlerischen Leiter Christoph Gröner überraschten ihre Fans in der bayerischen Landeshauptstadt kurzfristig mit einem Pop-up-Festival: Im Juli/August präsentieren sie acht Film- und Serien-Weltpremieren unter freiem Himmel im PopUp-Autokino. Ein Spaß allerdings für vergleichsweise wenige Zuschauer, jeweils ca. 350 können mitfeiern.

Online im Lockdown-Musterland

Einen anderen Weg beschritt das DOK.fest München. Anfang Mai terminiert, konnte es im Lockdown-Musterland Bayern ebenfalls nicht live stattfinden. Daniel Sponsel und sein Team erwiesen sich als mutige Vorreiter, präsentierten in kürzester Zeit eine Online-Ausgabe – und übertrafen mit mehr als 75.000 zahlenden Zuschauern alle Erwartungen. Zuhause dürften noch mehr Menschen die 121 Dokumentarfilme mitgeschaut haben, damit erreichte man ein größeres Publikum als jemals beim regulären Festival. Immerhin leistete mehr als die Hälfte der Ticketkäufer einen Solidarbeitrag zur Unterstützung der drei Münchener Partnerkinos, über 19.000 Euro kamen zusammen. Auch in Zukunft wird man beim DOK.fest wohl zweigleisig fahren, in den Kinos und digital.

Was fehlte, war die Atmosphäre in den Kinos, der Austausch über die Filme - der soziale Aspekt der Interaktion schweißt besonders Festivalbesucher zusammen. Immer mehr zeigt sich, wie wichtig das Kuratieren ist. Empfehlungen aussprechen, verschiedene Interessen ansprechen, das Publikum dort abholen, wo es ist – eben vor allem im Netz. Festivals werden ihre Bedeutung nicht verlieren – aber ihre Macher müssen sie neu bestimmen.

Ein Versuch war das am 29. Mai bei YouTube gestartete „We Are One: A Global Film Festival“, bei dem sich 21 internationale Filmfestivals, darunter die Berlinale, beteiligten und den Schulterschluss in Zeiten der Corona-Krise übten. 

Auch Locarno wird es nur virtuell geben

Schule machen könnten auch Initiativen wie die Kooperation zwischen Festivals, wie sie die Herbstfestivals von Venedig, Toronto, New York und Telluride, die alle im September/Oktober stattfinden, unlängst verkündeten: Man wolle nicht, wie bisher, um die besten Filme konkurrieren, sondern zusammenarbeiten. Ein Ansatz, der auch Druck vom Kessel nehmen könnte im Rennen der drei Alpha-Festivals (Cannes, Venedig, Berlin) um die besten Weltpremieren, der zuletzt immer heftiger geworden war. Weltpremieren sind die Währung der A-Festivals, die international angereiste Filmkritik verlangt, einen Film quasi jungfräulich zu sehen. 

Wie geht es weiter im Festival-Kalender? Das Locarno Film Festival (5. – 15. August) findet gerade virtuell statt, zeigt eine Auswahl seines Programms aber auch heimischem Publikum auf der großen Leinwand. Toronto (10.-20. September) hat seine Titelauswahl von ca. 250 auf nur noch 50 Filme herabgefahren. Ausgewählte lokale Filmvorführungen wird es geben, die internationale Branche wird das Festival aber online erleben. Im diesjährigen Programm sind Frauen und People of Color besonders stark repräsentiert, das TIFF macht sich stark für Genderparität und die Gleichheit ethnischer Gruppen. Telluride (3.-7. September) ist abgesagt. New York (25. September – 11. Oktober) setzt bei seiner 58. Ausgabe auf Open-Air- und virtuelle Vorführungen, bespielt aber auch einige Leinwände. Oscar-Gewinner Steve McQueen eröffnet das NYFF in der schwer Corona gebeutelten Stadt mit dem Rassismus-Drama “Lovers Rock”, das eigentlich in Cannes gelaufen wäre, und zeigt zwei weitere Weltpremieren.

Gut gebrüllt, Christian Petzold!

Hierzulande wird das Filmfest Hamburg als erstes großes deutsches Festival wieder physisch stattfinden und mit Oskar Roehlers “Enfant Terrible” über Filmikone Rainer Werner Fassbinder für Diskussionsstoff sorgen. Hof wird sowohl per Livestream als auch live in einigen Kinosälen stattfinden und eröffnet seine 54. Ausgabe (20.-25.Oktober) mit Julia von Heinz’ “Und morgen die ganze Welt”, der zuvor in Venedig Weltpremiere feiert. 

Gerade schaut die Kulturgemeinde gebannt, wie Salzburg seine Festspiele stemmt – ein Lackmustest. Dann kommt Venedig (2. – 12. September), das erste A-Festival unter Ausnahmebedingungen. Deutschland ist dort in diesem Jahr gleich doppelt vertreten: Julia von Heinz (Regisseurin des Millionenerfolgs “Ich bin dann mal weg”) geht als erste deutsche Filmemacherin nach Margarethe von Trotta mit ihrem neuen Film “Und morgen die ganze Welt” auf Löwenjagd. Brisantes, hochaktuelles Polit-Drama und Liebesgeschichte um eine junge Frau, die sich der Neo-Nazi-Bewegung entgegenstellt.

Und “Undine”-Regisseur Christian Petzold, weltweit anerkannter und ausgezeichneter Festival-Gast, entscheidet in der Jury unter Vorsitz von Cate Blanchett mit über die Löwen-Gewinner der 18 Wettbewerbs-Filme der 77. Mostra. Auch Gala-Auftrieb soll es geben am Lido: Schließlich habe man den längsten Roten Teppich der Welt, auf dem Social Distancing einzuhalten sei, so Festivalchef Alberto Barbera im Interview mit dem Branchenblatt Variety. Schon mal gut gebrüllt, Löwe! Barbera rechnet in diesem Jahr mit ca. 6000 akkreditierten Teilnehmern, ein Besucherrückgang von ca. einem Drittel. Hoffen wir also, dass Venedig ein Zeichen setzen kann in Richtung Normalität. Der Trend aber ist klar und wird in Zukunft wohl nicht nur für Filmfestivals, sondern für Filmkonsum generell gelten: Er heißt Film + und bedeutet, physische Kinovorstellungen und Online-Angebote schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. 

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