- Die Perversion der Ordnung
Kolumne: Zwischen den Zeilen. Jahresrückblicke, Merkelraute und die Deutsche Bahn. Die Deutschen schätzen eine gewisse Ordnung. Denn das Leben verlangt danach
Mit jedem Lebensjahr nimmt die Vergangenheit ein bisschen mehr Raum ein. Lebensraum. Besetzt durch Lebenszeit. Das hat mit der Logik der Endlichkeit zu tun. So wird paradoxerweise die Vergangenheit im Laufe des Lebens immer gegenwärtiger. Bis man irgendwann seine Existenz allein aus dem zu schöpfen beginnt, was einmal war. Man ist alt.
Ich bin ein Meister des Verdrängens. Nach vorne als auch nach hinten auf der Zeitachse. Deswegen weiß ich weder etwas mit Was-machst-du-an-Silvester?-Fragen im November anzufangen noch mit Jahresrückblicken in diesen Tagen. Jahresrückblicke sind wie Fanchoreografien in Fußballstadien: Würde es sie nicht geben, würde sie niemand vermissen.
Doch es gibt sie. Denn das Leben will nun einmal geordnet werden. Die nach vorne gerichtete Ordnung nennt sich Prognose. Der Jahresrückblick ist quasi die rückwärtsgewandte Version einer solchen – die nachträgliche Katalogisierung des kollektiven Bewusstseins. Die Vergangenheit wird quasi aufgeräumt, Ereignisse gefiltert, Höhepunkte markiert – Strich drunter. Durchatmen. Dem Prinzip folgend: Ohne einen ordentlichen Blick zurück kann es keinen Blick nach vorne geben.
Doch woher kommt eigentlich dieser Wunsch nach Ordnung? Diese Liebe zur Begradigung, nicht nur von Raum, sondern vor allem von Zeit? „Alles in Ordnung?“ sagen wir, und hinterfragen die Befindlichkeit. Doch wieso braucht es eine Ordnung, das Leben? Und was hat eigentlich Ordnung mit Wohlbefinden zu tun?
Halt und Gleichmaß bieten vor allem Religionen. Sie haben die Ordnung institutionalisiert. Weil sie vermeintliche Wahrheiten verkünden, Anfang und Ende zu kennen glauben und den Zweifel negieren, ihn als menschliche Fehlbarkeit individualisieren. Im Koran heißt es gleich zu Beginn: „Dies ist ein vollkommenes Buch; es ist kein Zweifel darin.“ (Sure 2,2) Was für ein unerhört ordentlicher Satz.
Spätestens die Bahn hat die deutsche Liebe zur Ordnung verweltlicht. Sie ist im Vergleich mit anderen Verkehrssystemen anderer Länder die wohl pünktlichste Bahn der Welt. Gleichzeitig aber wird sie gehasst für ein gegebenes Ordnungs- und Pünktlichkeitsversprechen, das sie permanent bricht, weil sie in der wirklichen Welt voller funktionierender Anzeigetafeln immer ein wenig daneben liegt. Das Ordnungssystem Bahn hat seine eigenen Gesetze. Es kann gar nicht anders. Erst kürzlich wollte ich einen Blick auf die Fahrpläne in den dafür vorgesehenen Vitrinen werfen. Doch darin hingen statt Fahrplänen Papiere mit folgendem Satz: „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund baulicher Mängel kann diese Informationsvitrine auf unbestimmte Zeit nicht genutzt werden.“ Genau das (!) ist die innere Ordnungslogik der Deutsche Bahn: Es müssen Zetteln darauf hinweisen, dass für andere Zettel kein Platz ist.
Zugegeben, ein Extremfall. Die Bahn. Und doch wachsen wir in dem Glauben auf, dass alles seinen Platz hat. Begreifen Ordnung als eine Art Grundvoraussetzung für das Polieren der eigenen Möglichkeiten. Dieses teils verkrampfte Herumschrauben an Lebensmodellen, auf Ziele hin ausgerichtet, an ordentlichen Biografien orientiert. Wiederkäuend Wege grasend, an dessen Ende so etwas wie Glück vermutet wird. Und immer ist die zur Schau gestellte Ordnung nur das nette Etikett für dahinterliegende Zweifel und Unsicherheiten.
Doch eine gesunde Ordnung lebt immer von Unordnung. So ist es auch beim Jahresrückblick: Erst die kurzweilige Abwesenheit von Ordnung in der Ordnung macht eine Nachricht.
Da sprengt eine Ursula von der Leyen die bundesrepublikanische Ordnung, weil sie nicht so in das verteidigungspolitische Bild passt, das da immer noch grassiert. Da sprengt ein Edward Snowden die Ordnung einer ganzen Welt, weil er Wissen teilt. Da sprengt eine Angestellte einer Videothek meine Ordnung, als sie mich erstaunt anblickt, weil ich meine Telefonnummer auswendig kenne. Sie beobachte das seit Langem, sagt sie. Frauen wüssten ihre Nummern nie, Männer hingegen schon.
War das schon Sexismus, fragte ich mich und hakte es unter empirischer Evolutionsbiologie ab.
Letztlich steht (und fällt) ein ganzes Jahr im Zeichen einer einzigen Ordnung. Einem einzigen Ordnungssymbol: der Kanzlerraute. Ein mathematisches Nichts stellvertretend für die nahezu perfekte Simulation politischer Realität. In der Mathematik ist die Raute ein ebenes Viereck, mit gleichlangen parallel liegenden Seiten, die gegenüberliegenden Winkel gleich groß. Klar, symmetrisch und berechenbar. Gleichzeitig aber sind Gefahrenhinweise oft rautenförmig (Straßenverkehr). Ist die Merkelraute also vielleicht doch ein Warnhinweis? Ein Code für dahinterstehendes Chaos? Die neu formierte #GroKo unter Führung von Merkel, Gabriel und Seehofer wird 2014 den Gegenbeweis antreten müssen. Glück auf!
Zumindest sie ist vorbei: Die gefährliche Unordnung der Feiertage liegt bereits hinter uns. All jene, die sich nicht in die Ordnung einer neuen Familie flüchten konnten, ruhten sich in der alten aus, kehrten in die Städte ihrer Kindheit zurück, trafen sich mit bejahrten Freunden. Um sich für einen kurzen Moment eine alte Ordnung ins Gedächtnis zu rufen, um die Seligkeit vergangener Tage zumindest für den Bruchteil eines Augenblicks zu reaktivieren. Klammernd, dankend, voller Demut. Bis, ja bis uns das neue Jahr in eine neue alte Ordnung überführt.
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