- Die Sehnsucht nach Halt im Patchwork-Zeitalter
In der zeitgenössischen deutschen Literatur folgt ein Familienroman auf den nächsten. Was in Wirklichkeit verloren geht, bewahrt die Dichtung. Es ist kein Zufall, dass sich Leser und Kritiker heute wieder auf diese klassische Form besinnen
Das Wort Familienbande, hat Karl Kraus gesagt, habe einen Beigeschmack von Wahrheit. Wir sollten den Satz nicht zitieren, ohne den Zentralaphorismus von Kraus hinzuzufügen: „Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb.“ Für das unermessliche Feld des Familienromans gilt wohl, dass der Spruch von der Familienbande anderthalb Wahrheiten besitzt. Denn Familien zu schildern, die keine Bande sind, Familien also, in denen schieres Glück und Zufriedenheit herrschen, ist nicht sehr aufregend und literarisch wenig ergiebig. Entsprechende Versuche, denen die zahllosen Nachfahren von Hedwig Courths-Mahler obliegen, landen zumeist im Kitsch. Wer rundum glücklich ist, der schreibt in der Regel keine guten Romane. Nur Erfahrungen des Mangels, des Unglücks, so lehrt uns der Blick auf die Literaturgeschichte, befeuern die poetische Energie. Der berühmteste Familienroman aller Zeiten, Tolstois „Anna Karenina“, handelt von einer unglücklichen Familie. Würden wir denn von einer glücklichen lesen wollen? Ich fürchte, nein. Das Glück der anderen ist selten unser eigenes.
Schon mehrfach hat man mit einiger Verwunderung bemerkt, dass sich die deutsche Gegenwartsliteratur immer häufiger dem Thema Familie widmet. Das ist in der Tat so, und ob man es begrüßen muss, steht nicht zweifelsfrei fest.
Der Deutsche Buchpreis jedenfalls ging in den vergangenen Jahren fast regelmäßig an einen Familienroman. Gerade eben gewann ihn Eugen Ruge mit seinem Epos „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, das die Geschichte der beiden Deutschlands und dreier, nahezu vierer Generationen umfasst. Gleich zu Beginn begegnet uns der krebskranke Sohn, der seinen dementen Vater füttert. Der Alte denkt noch lange nicht ans Sterben, während der Junge mit seinem Leben mehr oder weniger schon abgeschlossen hat. Der Roman gehört mit Sicherheit nicht zu den glücklichen Familiengeschichten, obgleich er stellenweise nicht ohne Komik ist. Jedenfalls zeigt er ganz vorzüglich, wie sich das, was wir Familie nennen, in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat. Der Sohn etwa findet in einer Szene im Schreibtisch des Vaters pornografische Bilder. Man wird annehmen dürfen, dass heutzutage der Schreibtisch als heimliches erotisches Depot keine Rolle mehr spielt – einerseits, weil an die Stelle des Schreibtischs die Festplatte getreten ist; andererseits, weil der alte Familienvater mit seiner klassischen Doppelmoral gerade ausstirbt, was man genauso bedauern sollte wie das Sterben einer Art.
Als in einer anderen Szene der Großvater seinen Neunzigsten feiert, wozu er wie üblich Gratulanten der SED erwartet (wir befinden uns noch im alten Ostberlin), denkt der Alte: „Wo bleibt eigentlich der Bezirkssekretär? – Dafür plötzlich ein Kind. Das Kind hatte ein Bild in der Hand. – Markus, dein Urenkel, sagte Charlotte. – Seit wann denn das? Wilhelm beschloss, nicht zu fragen.“ Solche großfamiliären Verwirrungen kennen wir heute nicht mehr. Sie wurden abgelöst von den Verwirrungen der PatchworkFamilie.
Folgen wir weiter dem Deutschen Buchpreis, so erblicken wir 2010 als Siegerin die aus dem heutigen Serbien stammende Schweizerin Melinda Nadj Abonji, die mit ihrem melodisch und kunstvoll erzählten Einwanderungsdrama „Tauben fliegen auf“ zugleich einen modernen Familienroman geschrieben hat. Das muss uns nicht wundern. Familienbande unter Immigranten haben eine besonders haftende Kraft, der zu entkommen nicht selten zur Tragödie führt – glücklicherweise nicht im Fall von Melinda Nadj Abonji, die von einer konfliktreichen, alles in allem geglückten Emanzipation berichtet. Die errungene Freiheit aber ist, anders geht es nicht, die Freiheit von der Familie und gegen sie.
Seite 2: „Verletzungen müssen erzählt werden“
Über den großartigen „Turm“ von Uwe Tellkamp, der 2008 den Buchpreis gewann und mit Recht auf eine begeisterte Resonanz gestoßen ist, muss hier nichts weiter gesagt werden. Das nun ist eine Familiensaga von geradezu Thomas-Mann-haften Dimensionen, wobei wir Familie nicht allein genealogisch verstehen dürfen, sondern die DDR am Ende ihrer Tage quasi als eine einzige kollektive Zwangsfamilie begreifen müssen, in der jeder mit jedem verbandelt und/oder verfeindet war. Den uns geläufigen Normalfall der modernen Gesellschaft, dass einer mit dem andern wenig oder am liebsten gar nichts zu tun hat, schien es hier nicht zu geben.
Dann der Buchpreis 2007: Julia Francks Roman „Die Mittagsfrau“ ist ein Familienroman und zugleich dessen Gegenteil, weil er die Vernichtungs- und Verwilderungsgeschichte vor Augen führt, der die deutsche Familie bis zu ihrer heutigen Schwundstufe ausgesetzt war. Wahrscheinlich gibt es kaum einen Leser dieses Buches, der seine eigene Biografie nicht an irgendeinem Punkt damit verbinden könnte. Die Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts waren auf der sichtbaren Seite die Zerstörungen der Städte, auf der unsichtbaren die der Familie. Das mag zum Auflagenerfolg der „Mittagsfrau“ beigetragen haben. Überhaupt ist ja bemerkenswert, dass nicht allein die erwähnten Buchpreis-Bücher den Zuspruch der Rezensenten und vor allem auch der Leser finden, sondern Familienromane generell. Auch Uwe Timms, Eva Menasses, Hans-Ulrich Treichels und Hanns-Josef Ortheils Familiengeschichten schildern keine heile Welt, sondern erzählen von frühen Verletzungen. Und diese Verletzungen, vor allem in Treichels „Der Verlorene“ und in Timms „Am Beispiel meines Bruders“, haben natürlich im Wesentlichen mit der deutschen Unheilsgeschichte zu tun.
Die Beliebtheit des Familienromans hierzulande hängt wohl damit zusammen, dass alte Verletzungen verzögert wieder auftauchen und danach verlangen, erzählt zu werden. Es gibt dieses Bekenntnisbedürfnis vorzugsweise am Abend, das uns zuweilen unerwartet befällt. Dann erinnern wir uns der Herkunft, packen halb vergessene Geschichten aus, erzählen von Unordnung und frühem Leid. Gibt es in der Literatur auch ein solches Vakuum, ein ähnliches Bedürfnis?
Dass einem die Familiengeschichte im Nacken sitzt, ist wahrlich nicht neu, aber dass man Romane darüber schreibt, versteht sich nicht von selbst. Oder vielleicht doch? Man könnte nämlich die Geschichte der Literatur als eine Geschichte des Familienromans erzählen. Wenn wir den Blick der Einfachheit halber auf die deutsche Literatur beschränken, so begänne sie mit dem fürchterlichsten aller Familienromane, mit dem Nibelungenlied. In der Familie nämlich, im System ihres heiratsökonomischen Strebens, ihrer verwandtschaftlichen Loyalitäten und politisch-kriegerischen Strategien, liegt die Wurzel aller Konflikte. Wobei hier allerdings Familie nicht im Sinne des Ehegattensplittings und des Kinderfreibetrags gedacht werden darf, sondern als königliche Hofhaltung mit einem wahren Rattenschwanz strenger Regeln und Stufungen.
Aber wenn wir uns davon nicht blenden lassen, so bemerken wir den allmählichen Verfeindungsprozess einiger Familien, der Wormser Sippschaft (Kriemhild und Gunter), der Xantener (Siegfried) und schließlich der des Königs Etzel. Und wie in einem ordentlichen Familienroman spielen Eifersucht, Eitelkeit und sexuelle Besitzgier eine maßgebliche Rolle. Das wahrhaft monströse Blutbad am Ende allerdings findet in den späteren bürgerlichen und spätfeudalen Familienromanen, wie sie uns bei Jane Austen etwa begegnen, glücklicherweise keine Entsprechung mehr. Deren normales Ende gleicht dem Missgeschick in der Tanzstunde: Man kriegt nur den zweitbesten Partner ab.
Seite 3: Sehnsucht nach Geborgenheit in der Hauptstadt der Singles
Es ist aber dem Eindruck entgegenzutreten, die Geschichte der Literatur sei ausschließlich die des Familienromans. Franz Kafka hat keine Familienromane geschrieben, Stifter ebenso wenig, auch Robert Musil, Joseph Roth und Heimito von Doderer nicht. Immer wieder gab es Zeiten, in denen er keine Rolle spielte, und es waren äußerst fruchtbare – wie etwa die der Klassik und Romantik. Wollen wir die „Wahlverwandtschaften“ als Familienroman betrachten? Allenfalls geht es darin um Patchwork-Verhältnisse der experimentierfreudigen Art. Die wahrhaft wunderbaren Romane Eichendorffs, Brentanos verrückter „Godwi“, die Prosa E. T. A. Hoffmanns und Jean Pauls – das alles sind poetische Abenteuerfahrten, die über den Horizont der Familie weit hinausgehen.
Und nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit des Wirtschaftswunders, hatte der Familienroman zunächst erst recht keine Basis. „Der nomadisierende Einzelgänger“, so Iris Radisch kürzlich im Literaturmagazin der Zeit, „war der literarische Lieblingsheld der aufstrebenden bundesdeutschen Angestelltengesellschaft. Ihre Lieblingsschriftsteller waren der junge Peter Handke und der junge Botho Strauß, deren genialische Helden so vereinsamt waren, dass ihnen schon das nächtliche Knacken der Kühlerhauben von geparkten Autos tröstlich erschien.“ In der Tat knüpfen Strauß und Handke an die philosophische Tradition der Romantik an. Nicht das naturalistische Abbild einer vertrauten Realität ist ihr Ziel, sondern deren poetische oder konservativ-kritische Überhöhung. Da gibt es keinen Platz für Familiengeschichten, ob glückliche oder unglückliche.
Es ist eine Zukunft vorstellbar, in der Begriffe wie „Schwiegervater“ oder „Schwiegertochter“ erläutert werden müssen, weil ihnen keine Realität mehr entspricht. In Berlin, das zeigt eine Studie aus dem Jahr 2008, bestehen 52 Prozent aller Haushalte nur aus einer einzigen Person. Die Schulfreunde kommen nahezu alle aus irgendwie zusammengewürfelten Familien. Da ist der geschiedene Vater, dessen neue Freundin weiteren Nachwuchs ins Haus bringt; da gibt es die Familien, deren zahlreiche Kinder von mehreren Vätern stammen; alleinerziehende Mütter, die für Hausaufgabenhilfe nicht zur Verfügung stehen, weil sie arbeiten müssen – derlei ist seit Jahren die Regel.
Es liegt auf der Hand: Je mehr Menschen aus solchen, dem alten Familienideal widersprechenden Verhältnissen kommen, desto mehr wächst der Wunsch, Familienromane zu lesen. Und hier spaltet sich die Leserschaft. Die einen suchen das Idealbild, das leider zumeist nur vom Rührstück à la Rosamunde Pilcher geliefert wird, und die anderen suchen in den unglücklichen Familien Parallelen zur eigenen Erfahrung. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wer es erzählen kann oder erzählt bekommt, gewinnt vielleicht die Energie zu neuem Streben nach Glück.
Dem mythischen Ideal begegnen wir im Bild der Heiligen Familie, wie es uns die Kunstgeschichte in Abertausenden der schönsten und rührendsten Darstellungen vor Augen führt. Die Feier dieses Ideals erreicht an Weihnachten ihren Höhepunkt. Immer noch ist es das Fest der Familie, das liebende Begegnungen ebenso kennt wie schmerzliche Zerwürfnisse. Dabei wäre es gar nicht leicht zu sagen, was die Heilige Familie, unterhalb der Frage des Glaubens, eigentlich gewesen ist. Bei Markus (3,31) lesen wir über Jesus: „Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben vor dem Haus stehen und ließen ihn herausrufen. Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und fragen nach dir. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ Das widerspricht dem romantisierten Familienbild auf schroffe Weise und erweitert es zum universalen Liebesgebot. Vor einigen Jahren hat eine Hamburger Pastorin in ihrer Weihnachtspredigt gesagt, die Heilige Familie sei eine PatchworkFamilie gewesen, was einige Zuhörer getröstet haben mag, während Eheleute, die in Treue aneinander festhielten, diese etwas opportunistische Deutung irritiert zur Kenntnis nahmen.
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