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Anti-Lifestyle - Fußball als verdichtete Lebenswirklichkeit

Wer den Fußball liebt, hat es nicht leicht. Neben häuslichem Unverständnis, muss der wahre Fußballfreund noch ganz andere Widrigkeiten umschiffen, bevor er ein Spiel genießen kann

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Mit dem Fußball ist es wie mit der Literatur. Das Spiel mit dem Ball ist - genau wie das Spiel mit den Worten - ein ernstzunehmendes. „Fußball ist eine ins Spielhafte übertragene, erhöhte und verdichtete Lebenswirklichkeit“, schrieb der Schriftsteller Manfred Hausmann. Recht hat er. Fußball und Literatur überhöhen, verdichten, sind Mikrokosmen konzentrierter Wirklichkeit. Und bei aller Spielhaftigkeit sind Fußball und Literatur doch im Grunde zu ernst, um sie der Unernsthaftigkeit zu überlassen.

Wer die Liebe zur Literatur nicht teilt, wird nicht nachvollziehen können, dass Worte Melodien bilden, dass sie wirkmächtig Gefühle zu Papier bringen können. Wer die Liebe zur Literatur nicht teilt, wird nicht verstehen, dass Sätze immer auch ein zweites Ende haben, dass die Worte eines Fremden zu den eigenen werden können, sie Momente des Glücks erzeugen.

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Wer die Liebe zum Fußball nicht teilt, wird nicht begreifen können, warum nach einer Niederlage (und noch dazu nach einer unverdienten!), echter Schmerz, mitunter sogar echte Verzweiflung den Augenblick bestimmen. Wird nicht nachvollziehen können, welche Spannungen während eines Spiels wirken, welch Glückseligkeit ein Tor oder ein außergewöhnlicher Spielzug auslösen können. Wie viel wahre Schönheit in einer anmutenden Bewegung, einem perfekten Pass, einer gefühlvollen Annahme oder malerisch vollführten Ballführung stecken kann.

Und: Mit der Liebe zur Literatur ist es wie mit der Liebe zum Fußball: Man kann sie sich nicht aussuchen, sie sucht einen aus. Sie fällt, wie sie fällt. Wer nicht in frühster Kindheit von einem Verein gefunden wurde, der wird in späteren Jahren auch kein Freund des Fußballs mehr. Der wird allerhöchstens bei große Turnieren „mitfiebern“, wird zum Publicviewer, zum Zweijahresfan, zum Eventgucker oder schlimmer: Er verwechselt Fußball mit Lifestyle oder glaubt, alle zwei Jahre bei WM oder EM für die vermeintlich sympathischen Außenseiter die Daumen drücken zu müssen. Er wird aber eben nicht zum wahren Freund des Fußballs.

Der wahre Fußballfreund möchte in seinem Mikrokosmos verharren, er liebt das Spiel und nicht den Event. Er möchte sich auch nicht ständig rechtfertigen müssen, warum er am Wochenende feste Termine hat und gleichwohl geneigt ist, so manches Mal ausrufen zu wollen, dass Geburten, Hochzeiten und Todesfälle doch bitteschön auf ein spielfreies Wochenende zu fallen haben. Und nein. Fußball ist ganz sicher nicht die schönste Nebensache der Welt. Fußball ist in dem Moment, da er gespielt wird, alles, nur nichts Beiläufiges.

So hat der wahre Fußballfreund gute Gründe, Spiele alleine zu gucken. Gerade die wenigen, die im Free-TV laufen, gilt es sich zu erkämpfen. Wie "verdichtet" die Lebenswirklichkeit Fußball auch sein kann, zeigt der Blick ins heimische Wohnzimmer: Und ja, es gibt sie, Dinge, die beim Fußballgucken niemals ausgesprochen werden dürfen. Lauschen wir also einem Dialog, bei dem, um es vorwegzunehmen, die Geschlechterrollen rein zufällig verteilt sind.

Er, Fußballfreund trifft auf Sie, Passiv-Fußballgucker. Es läuft das Achtelfinalrückspiel Bayern München gegen Arsenal London.

Sie schnappt sich die Fernbedienung.

Er: Vergiss es, heute läuft Fußball.

Sie: Wie, schon wieder?

Er: Ja. Schon wieder.

Sie: Aber das lief doch schon am Wochenende!

Er: Das war Bundesliga.

Sie: Aha. Und wer spielt heute?

Er: Bayern gegen Arsenal.

Sie: Moment, das lief doch schon letzte Woche.

Er: Ja. Und heute läuft das Rückspiel.

Sie: Aber bis zum Anpfiff kann ich ja noch umschalten.

Er: Wage es nicht, Scholli spricht!

Sie: Aber die sagen doch eh immer dasselbe.

Er: Richtig.

Sie: Na dann kann ich ja umschalten.

Er: Falsch.

Sie geht ab, wendet sich anderen Dingen zu. (Beispielsweise einem Ikeakatalog.)

Anpfiff.

Sie: Wieso gibt es eigentlich Hin- und Rückspiel?

Er: Wieso ist die Erde rund? Ich versteh deine Frage nicht?

Sie: Na ja, ein Spiel reicht doch.

Er: Und das tragen die dann bitte wo aus?

Denkpause

Sie: Na, auf neutralem Boden, in einem anderen Land vielleicht.

Er schüttelt den Kopf: Dich hätte man in einem anderen Land austragen sollen.

Kurze Verzweiflungspause

Er wütet, regt sich über den Kommentator auf.

Sie: Meine Güte, jetzt schrei doch nicht so. Er erklärt doch nur ein bisschen.

Er: Ich hab’ allen Grund dazu. Was bitte soll eine „unnatürliche Handbewegung“ sein?

Er doziert sehr emotional: Selbst, wenn die Hand abfällt und der Gegenspieler mit der abgefallenen Hand seines Gegenübers den Ball spielt, bleibt es die natürliche Bewegung einer natürlichen Hand! Unnatürliche Handbewegung gibt es nicht! So ein Quatsch!

Pause

Plötzlich fällt das Tor zum 0:1.

Sie ruft laut: Glanzparade!

Er: WAS?

Sie: Na, Glanzparade! War doch gut geschossen?

Er: Oh Mann. Du weißt, was eine Glanzparade ist? Das ist, wenn ein Torwart den Ball hält.

Sie: Ah...

Pause

Er ruft: Falscher Einwurf!

Sie: Was ist denn bitte ein falscher Einwurf?

Er: Kann ich jetzt nicht erklären.

Sie, sichtlich erfreut: Du weißt es nicht, du weißt nicht.

Er: Natürlich weiß ich, was ein falscher Einwurf ist.

Er macht eine Falsche-Einwurf-Geste

Pause

Nach 0:2

Sie: Müssen wir das zu Ende sehen, die haben doch eh schon gewonnen.

Ende

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