- Der unvermeidbare Tabubruch und sein Preis
Die SPD hat im Grunde keine andere Wahl, als in Thüringen Juniorpartner der Linken zu werden. Das ist die bittere Konsequenz einiger Fehler der Vergangenheit. Trotzdem bleibt es eine Entscheidung mit Risiken
Es gibt zwei Zahlen, die das Dilemma der SPD in Thüringen in ihrer ganzen Dramatik beschreiben.
Als 1998 ein Bundestag gewählt wurde, wählten 549.942 Thüringer die SPD. Die Partei errang 34,5 Prozent der Stimmen und holte bis auf eines alle Direktmandate des Landes, 2002 waren es sogar 578.726 Stimmen und 39,9 Prozent. Bei der Landtagswahl am 14. September 2014 waren von dieser sozialdemokratischen Herrlichkeit 116.889 Wähler beziehungsweise 12,4 Prozent übrig geblieben und ein einziges Direktmandat. Innerhalb von zwölf Jahren wurde die sozialdemokratische Wählerschaft in Thüringen pulverisiert. Dafür gibt es viele Gründe, im Bund und im Land.
Als die Linke noch PDS hieß, hätte die SPD deren Erfolge im Osten durch Einbindung in Verantwortung eindämmen können. Die Chance wurde in Thüringen vertan. Stattdessen wurde der linken Konkurrenz im Agenda-2020-Streit neues Leben eingehaucht. Bei der Landtagswahl erhielt die Linke mit 28,2 Prozent deutlich mehr als doppelt so viele Stimmen wie die SPD. Und mittlerweile wissen die Thüringer Sozialdemokraten, dass es ein Fehler war, nicht schon vor der Wahl zu sagen, dass sie nach der Wahl mit der Linken regieren wollen. So wählten alle, die die CDU von der Macht vertreiben wollten, die Linken und dessen machtbewussten Spitzenkandidaten Bodo Ramelow.
Gründe für den Niedergang der SPD
Zwei Gründe für den Niedergang der SPD in Thüringen heißen allerdings CDU. Zwei Mal war die Partei in der Landesregierung in den letzten zwei Jahrzehnten Juniorpartner der Union, zwei Mal wurde die SPD dafür vom Wähler ziemlich schmerzhaft abgestraft.
Jetzt ist die Not der SPD in Thüringen groß und auch die Wut auf die Christdemokraten. Die haben in den letzten Jahren schließlich kaum eine Gelegenheit ausgelassen, den kleinen Koalitionspartner bloßzustellen und zu demütigen. Zuletzt im Wahlkampf hatte der CDU-Fraktionsvorsitzende Mike Mohring dem SPD-Bildungsminister Christoph Matschie vorgeworfen, eine Schulpolitik „wie zu Margot Honeckers Zeiten“ zu betreiben. Das saß und ist nicht vergessen. Und so wirbt jetzt selbst der brave SDP-Gründer, der sich lange gegen ein Bündnis mit den Linken gewehrt hatte, für Rot-Rot-Grün unter fremder Führung.
Ziemlich geschlossen glauben die SPD-Genossen zwischen Gotha und Erfurt – in dem Land also, in dem einst die Wiege der deutschen und europäischen Sozialdemokratie stand – sie hätten keine andere Wahl. Als sich als Juniorpartner auf das Abenteuer Rot-Rot-Grün einzulassen und Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten zu wählen. Einstimmig votierten der Landesvorstand und die Kreisvorsitzenden am Montag dieser Woche für Koalitionsverhandlungen. Auch an der Basis gibt es kaum Widerspruch. Noch ist das Bündnis nicht vollzogen. Bei der Ministerpräsidentenwahl im Dezember muss sich anschließend erst noch erweisen, ob die denkbar knappe Ein-Stimmen-Mehrheit der drei Parteien tatsächlich steht. Doch die Weichen wurden gestellt, ein Zurück gibt es für die Thüringer SPD nicht mehr.
Fast könnte man meinen, die Sehnsucht, die mittlerweile verhassten Christdemokraten in Thüringen nach 24 Jahren an der Macht endlich in die Opposition zu schicken, habe die Sozialdemokraten blind gemacht.
Es ist eine wahrlich historische Entscheidung. Erstmals nach 150 Jahren gibt die SPD in einem Bundesland den Führungsanspruch im linken Lager gegenüber einer Partei, die sich auf dieselben historischen Wurzeln in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts beruft, auf. Und diese Entscheidung birgt hohe Risiken. Statt der CDU unterwerfen sich die Sozialdemokraten den Linken in einem Dreierbündnis, in dem die Zentrifugalkräfte allein aus strukturellen Gründen stärker sind. Die Vergangenheit ist dabei das geringste Problem. 25 Jahre nach dem Untergang der DDR wird man konstatieren müssen, dass die Transformation der ehemaligen Staatspartei in die westliche Demokratie abgeschlossen ist. Die Diskussion um die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, ist da nur eine Nachwehe. Dass mit Bodo Ramelow die SED in Erfurt an die Macht zurückkehrt, glauben nur noch ein paar Ewiggestrige, die tief im Westen leben. Das größere Problem ist die Zukunft.
Die rote FDP
Regiert Bodo Ramelow das Land gut, vertragen sich Linke, SPD und Grüne fünf Jahre lang, könnten sich die Wähler in Thüringen fragen, wer eigentlich das sozialdemokratische Original ist. Zumal die Linke im Osten die breitere Mitgliederbasis hat und mehr ostdeutschen Stallgeruch. Da können die SPD-Politiker in Thüringen jetzt noch so überzeugend betonen, dass sie sich in den Koalitionsverhandlungen weitgehend durchgesetzt haben und sie aufgrund ihrer Regierungserfahrung der Stabilitätsanker von Rot-Rot-Grün sind. In fünf Jahren wird sich daran kein Wähler erinnern. Hinzu kommt, dass angesichts erodierender Parteienbindungen Personen in der Politik immer wichtiger werden. Die Partei, die den Ministerpräsidenten stellt, besitzt also am Wahltag einen entscheidenden strategischen Vorteil. Es könnte demnach sein, dass sich die SPD in Thüringen daran wird gewöhnen müssen, dass sie dort nur noch Mehrheitsbeschaffer für Linke und CDU ist, eine rote FDP sozusagen.
Scheitert hingegen das rot-rot-grüne Abenteuer, erweist sich Bodo Ramelow als regierungsunfähig, das Dreierbündnis als instabil oder die Ein-Stimmen-Mehrheit als zu knapp, dann werden die Wähler nicht nur die Linke abstrafen. Dann werden SPD und Grüne ebenfalls den Kopf hinhalten müssen. Mitgefangen, mitgehangen. Und es sage keiner, bei 12,4 Prozent sei für die SPD Schluss. Es kann ziemlich schnell noch weiter in den Keller gehen. Die Zahl der sozialdemokratischen Stammwähler, die ihrer Partei um jeden Preis die Treue halten, tendiert in Thüringen, wie im Osten insgesamt, gegen Null.
Eine überzeugende Strategie, wie sie aus diesem Dilemma wieder herauskommen, haben die Sozialdemokraten nicht. Sie setzen auf den sehr populären Erfurter Bürgermeister Andreas Bausewein, der am kommenden Samstag auch zum Landesvorsitzenden gewählt werden wird. Sie hoffen, dass sich viele Wähler wieder auf das sozialdemokratische Original besinnen, wenn sie nicht mehr CDU-Politik mitverantworten müssen. Zudem sollen die Wähler in den kommenden fünf Jahren erkennen können, dass die Sozialdemokraten mehr politischen Sachverstand besitzen und verlässlicher regieren. Man wird sehen, ob dies gelingt.
Vor allem aber ist derzeit das Bemühen der SPD erkennbar, den historischen Tabubruch als ein begrenztes, den regionalen Besonderheiten geschuldetes Ereignis darzustellen. Doch ein solches Containment wird kaum gelingen. Thüringen strahlt aus, auf den gesamten Osten und auch auf den Bund.
In Sachsen-Anhalt und in Sachsen, wo die SPD als Juniorpartner der Großen Koalition in einem ähnlichen strategischen Dilemma steckt, wird die Linke nun ebenfalls die Führungsrolle im linken Lager beanspruchen. Überzeugende Argumente, ihr diesen grundsätzlich zu verweigern, hat die SPD nicht mehr.
Rot-Rot-Grün im Bund keine Option
Auch im Bund bekommen die Debatten um Rot-Rot-Grün nun neue Nahrung. Doch anders als im Osten ist dieses Bündnis in Berlin keine Machtoption. Rot-Rot im Bund ist unpopulär, die potentiellen Partner haben sich voneinander entfremdet. Wo in Thüringen zwischen beiden Parteien Vertrauen herausgebildet hat, herrscht im Bund eine kalte Leere. Alle bundespolitischen Spekulationen über Rot-Rot-Grün spielen nur der CDU und Kanzlerin Merkel in die Hände. Also wird SPD-Chef Sigmar Gabriel viel Energie darauf verwenden, immer wieder zu erklären, warum Thüringen kein Testlauf für Berlin ist. Eine klare Botschaft sähe anders aus.
Hat die SPD in Thüringen eine andere Wahl? Vermutlich nicht. Und wenn überhaupt, hat sie die Wahl zwischen Pest und Cholera. An der Seite der CDU oder als schmollende Oppositionspartei wäre sie in keiner besseren Lage. Im Gegenteil. Bliebe die SPD Juniorpartner der CDU, würde die Partei an der Basis in Thüringen implodieren. Die Option Opposition, von der manche Genossen reden, gibt es in Wirklichkeit nicht. Ohne die SPD gibt es in Thüringen keine Regierung, sondern Neuwahlen. Davon würden nur die AfD profitieren und die CDU. Die einmalige Chance, die CDU aus der Landesregierung zu vertreiben, wäre vertan.
Sicherlich wird die SPD einen Preis zahlen müssen für den Tabubruch, in Thüringen und auch in Berlin. Doch als 12-Prozent-Partei muss sie sich wohl damit abfinden, dass die Handlungsspielräume eng geworden sind und die strategischen Optionen klein. Die erste Geige in der Politik spielen mittlerweile andere. Die SPD in Thüringen ist nicht blind geworden. Vielmehr zahlt sie jetzt zunächst den Preis für die Fehler der Vergangenheit.
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