- Hat Steinbrück die Ostdeutschen beleidigt?
Peer Steinbrück hat Angela Merkel mangelnde Leidenschaft für Europa vorgeworfen – wegen ihrer DDR-Sozialisation. Wie reagiert die Politik?
Es ist nicht das erste Mal, dass SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mit einer Äußerung Aufsehen erregt. Bei einer Tagesspiegel-Veranstaltung bemängelte er, er habe noch nie eine echte europäische Rede von Merkel gehört. Diese mangelnde Leidenschaft sei womöglich auf ihre DDR-Vergangenheit zurückzuführen.
Steht die eigene Partei bei diesen Aussagen hinter ihm?
Wahlkampfmanager von Parteien sehen es nie gerne, wenn Spitzenkandidaten Thesen in die Welt setzen, von denen sich ein Teil der Bevölkerung diskriminiert fühlen könnte.
Entsprechend schmallippig reagierte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles am Montag während ihrer Pressekonferenz auf die Frage, ob die SPD die Ansicht Steinbrücks über den Zusammenhang von DDR-Sozialisation und mangelnder Europaleidenschaft teile. Die SPD-Politikern verwies lediglich darauf, die Journalisten sollten Steinbrück selbst fragen.
Wohl weil sie dem eigenen Kandidaten nicht widersprechen und Schlagzeilen über Uneinigkeit in der SPD vermeiden wollten, äußerten sich auch sozialdemokratische Politiker aus den neuen Ländern nicht zur Steinbrück-These, denen der Kandidat streng genommen ebenfalls Europa-Leidenschaft abgesprochen hatte. Brandenburgs scheidender Ministerpräsident Matthias Platzeck und sein designierter Nachfolger, der bisherige Innenminister Dietmar Woidke, zogen es am Montag vor zu schweigen. „Wir danken für die Anfrage, sehen aber keine Möglichkeit diese zu beantworten“, erklärte Regierungssprecher Thomas Braune knapp. Zuspruch oder Unterstützung klingt anders. In der SPD-Zentrale in Potsdam schüttelt man über den Wahlkampf Steinbrücks schon seit geraumer Zeit den Kopf. Man darf also fest davon ausgehen, dass Platzeck, der Merkel seit Mitte der 90er Jahre freundschaftlich verbunden ist und der in seinem Buch „Zukunft braucht Herkunft“ für ein neues Selbstbewusstsein der Ostdeutschen eintrat, nichts von Steinbrücks Äußerungen hält.
Wie gehen andere Parteien mit Steinbrücks Äußerungen um?
Für die CDU war es im Wahlkampf eine Steilvorlage. Noch am Sonntagabend hatte Generalsekretär Hermann Gröhe eine Entschuldigung von Steinbrück gefordert, da dieser Millionen Menschen in der ehemaligen DDR und in ganz Mittel- und Osteuropa beleidige. Kritik an den Äußerungen des SPD-Kanzlerkandidaten kommt auch aus Thüringen. Die CDU-Landesvorsitzende und Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht attestiert Steinbrück Unkenntnis. „Peer Steinbrück zeigt einmal mehr, dass er nicht nur die Bundeskanzlerin, sondern die Menschen in den neuen Ländern und ihre Geschichte nicht richtig kennt. Gerade die Bürgerinnen und Bürger aus der ehemaligen DDR haben mit Leidenschaft für Freiheit in einem friedlichen Europa gekämpft und davon profitiert. Umso mehr wissen sie das Projekt Europa zu schätzen. Schließlich waren es die DDR-Bürger, die jahrzehntelang eingesperrt waren und die Freiheit in einem geeinten Europa herbeisehnten“, sagte sie dem Tagesspiegel.
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Seit der friedlichen Revolution sei neben der deutschen Einheit die Einbindung in die europäische Familie und die damit verbundenen Freiheiten „das größte Glück für uns“. Für besonders abwegig hält es Lieberknecht, dass es der Bundeskanzlerin an Engagement für Europa mangele: „Angela Merkel hat Europa stets zur Chefsache gemacht.“ Sie trage maßgeblich dazu bei, „dass die Europäische Union und vor allem die Euro-Staaten eine historische Finanzkrise meistern.“ Die Thüringer wüssten, dass Europa ihre Zukunft sei. „Herr Steinbrück scheint diese Seiten unseres Landes schlicht nicht zu kennen.“ Mit Blick auf ihren Vorschlag eines Deutschlandfonds betonte Lieberknecht: „Genau wie bei der Förderung strukturschwacher Regionen sollte man auch in Zukunft erst recht Vorurteile nicht nach Himmelsrichtungen pauschal verteilen.“
Aus einer ganz anderen politischen Richtung kam ebenfalls Unterstützung für Merkel: Linken-Parteichefin Katja Kipping sprach in der „Saarbrücker Zeitung“ von einer „Diffamierung, die aus den Abgründen des Kalten Krieges“ stamme. „Steinbrück beginnt hier eine Kampagne gegen den Osten, die sehr gefährlich ist“, so Kipping. „Wir verlangen eine Entschuldigung.“ Sie forderte ostdeutsche Sozialdemokraten auf, jetzt rasch klarzustellen, ob sie Steinbrücks Thesen teilten.
Der Europaabgeordnete und frühere langjährige Linken-Parteichef Lothar Bisky nannte Steinbrücks Bemerkungen über Merkels fehlende Leidenschaft „einfach blödsinnig“. Steinbrück versuche sich in der „Abstempelung der Ossis auf Lebensdauer“. Die Ostdeutschen jedoch seien schon immer sehr verschieden gewesen, „einige wollten mehr nach Moskau, die anderen waren immer schon Richtung Westen orientiert“. Schon zu DDR-Zeiten sei Europa „für die meisten eine große Chance und auch sehr nahe“ gewesen. Brandenburgs Finanzminister Helmuth Markov, der für die Linke viele Jahre Europaparlamentarier war, sagte: „Ich hätte mich gefreut, wenn Peer Steinbrück die Europapolitik der Bundeskanzlerin kritisiert hätte, aber ihr die Herkunft vorzuwerfen ist einfach primitiv.“ Merkel habe viel dafür getan, dass die faszinierende Idee einer friedlichen und solidarischen Europäischen Union beschädigt worden sei. „Das liegt aber nicht daran, dass sie in der DDR in die Schule gegangen ist, sondern daran, dass sie Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union ist. Herr Steinbrück hat aber offensichtlich völlig vergessen, dass in der Zeit der großen Koalition die EU-Politik der Regierung auch nicht besser war.“
Wie war das Verhältnis der Ostdeutschen zu Europa?
Es gab sie nicht: „die Ostdeutschen“. Darauf verweist der frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Steinbrücks Meinung teilt er zumindest in einem Punkt: Europapolitische Leidenschaft sei bei Angela Merkel „nicht erkennbar“. Ihr fehle das Gefühl dafür, wohin sie Europa mit ihrer Austeritätspolitik treibe. Es sei ja auch aus früheren Zeiten zu diesem Thema nichts von ihr überliefert. „Der DDR-Bürger hat eher an die Mauer und das deutsch-deutsche Verhältnis gedacht. Viele wollen ja insgeheim auch an die Einheit gedacht haben“, sagte Schorlemmer. Anders sei es in der Oppositionsbewegung der 80er Jahre gewesen. Dort sei „sehr deutlich europäisch gedacht“ worden, um den europäischen Nachbarn die Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland zu nehmen. „Unsere Sorge war doch, dass uns die deutsche Einheit weggeschlagen wird von der Sowjetarmee“, sagte Schorlemmer. „Deshalb hatten wir immer die europäische Dimension im Blick. Aber an solchen Prozessen hat Angela Merkel ja nicht teilgenommen.“
Wie kommt die Debatte in Osteuropa an?
Ehemalige polnische Dissidenten sind empört. „Ein Politiker, der so etwas behauptet, hat die Berliner Mauer noch im Kopf“, sagt Maria Graczyk, leitende Redakteurin des polnischen Europapolitik-Onlineportals euractiv.pl. Spätestens nachdem westeuropäische EU-Mitglieder wie Frankreich die Europäische Verfassung abgelehnt hätten, sei doch klar, dass neuer Wind für die EU nur aus Mittelosteuropa erwartet werden könne, die Sozialisierung spiele dabei keine Rolle, sagt die einstige anti-kommunistische Studentenaktivistin.
Gerade die neuen EU-Mitglieder könnten die EU aus ihrer Lethargie befreien, heißt es in Polen. Zudem gab es vor 1989 an polnischen Hochschulen ein Fach „EWR – Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, man bereitete sich auch in den offiziellen Strukturen durchaus auf die Zusammenarbeit mit Europa vor, doch niemand wagte, von einer so schnellen Integration zu träumen.
Was hat Peer Steinbrück umgetrieben, Merkel in dieser Art und Weise zu kritisieren?
Europa ist eines der Themen, bei denen die Sozialdemokraten versuchen, gegenüber der populären Kanzlerin Boden gut zu machen. Dass Angela Merkel kühl und leidenschaftslos Europapolitik betreibe, wurde ihr schon in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen. Dass auch Gerhard Schröder in seiner Amtszeit nicht immer ein glühender Verfechter des europäischen Gedankens war und sich anfangs schon mal darum sorgte, dass deutsches Geld in Brüssel „verbraten“ werde, ist indes fast schon vergessen.
Vielleicht zeigte ja Bundeskanzler Helmut Kohl durchaus prophetische Gaben, als er am 2. Oktober 1983 zum damaligen französischen Präsidenten Francois Mitterrand sagte: „Täuschen Sie sich nicht, ich bin der letzte pro-europäische Bundeskanzler.“ Vielleicht ist es also weniger eine Frage der Herkunft als vielmehr eine Frage der Generation, wie eng die Verbundenheit zu Europa ist – zumal sich Steinbrück selbst auf die Montanverträge und die Anfänge der Integration bezieht.
Die Aussagen Peer Steinbrücks zur fehlenden Europa-Leidenschaft der Ostdeutschen im Wortlaut
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