- Erst zögern, dann stürmen
Kolumne: Leicht gesagt. Der Kurswechsel gehört mittlerweile zu Angela Merkels politischem Standardrepertoire – erst beim Atomausstieg, dann bei der Griechenland-Rettung. Auch in der Flüchtlingsfrage reagierte sie zunächst zögerlich und steht nun an der Spitze der europäischen Hilfsbewegung
Es sagt sich leicht, dass gegenwärtig ganz Deutschland zusammenstehen muss. Nationale Pläne werden entwickelt und Milliarden in die Hand genommen, um den ankommenden Flüchtlingen zu helfen.
Den Kriegsflüchtlingen, wohl gemerkt. Denn die andere Seite heißt: strenge Abschiebung aller Zuflucht Suchenden aus dem Westbalkan. Merkels Motto ist: Willkommen Syrer, Iraker, Eritreer! Auf Wiedersehen Albaner, Mazedonier und Kosovaren!
Angela Merkel kann sich als Flüchtlingskanzlerin feiern lassen, während sie als Abschiebekanzlerin Fakten schafft. Sie hat dabei eine völlig gewendete SPD an ihrer Seite. Denn bevor die Zahl der Kriegsflüchtlinge so hoch war, hielt die SPD wenig von den geplanten Abschieberegelungen. Sie war höchstens zu einem Deal bereit: Abschiebung nur, wenn es ein Einwanderungsgesetz gibt.
Priorität der Kriegsflüchtlinge
Dieses Junktim scheint aufgehoben. Die Kanzlerin hat es mit einem Einwanderungsgesetz gar nicht mehr eilig. Es soll für ihre Partei Diskussionsstoff für den Dezemberparteitag sein – mehr nicht. Denn man wisse ja gar nicht, wie die Flüchtlingssituation sich auf den Arbeitsmarkt in einem Jahr auswirke, sagte Merkel jüngst. Also auch hier gilt: Kriegsflüchtlinge zuerst.
Niemand wagt da zu widersprechen. Es klingt ja auch logisch, dass Lebensrettung von Verfolgten mehr zählen muss als die bloße Verbesserung der Lebensverhältnisse von Frustrierten.
International wird das bestätigt: „Wir haben eine der größten Krisen zu bewältigen, seit es Europa gibt, seit es die EU gibt“, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, derzeit EU-Ratspräsident, dem ZDF. „Hier geht es nicht um Geld, nicht um Wachstum, nicht um Technologie – es geht um Menschen.“
Das ABC von Merkels Krisenmanagement
Technologie, Wachstum, Geld – Asselborns Aufzählung klingt nicht zufällig. Denn das alles waren Krisenthemen Europas, mit denen Merkel während ihrer Kanzlerschaft konfrontiert war. Jedes Mal hat es lange gedauert, bis sie eine klare Haltung eingenommen hatte. Oft war es erst die unabwendbare Katastrophe, die Merkel trieb. Dann allerdings setzte sie sich an die Spitze der Bewegung.
Mit A wie Atomausstieg fing es an. Merkel war lange überzeugt von der Kernkraft, so sehr, dass sie trotz breiten Widerstands in der Bevölkerung daran als „Brückentechnologie“ noch viele Jahre festhalten wollte. Erst nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima riss sie ihr Ruder in die Gegenrichtung – manche sagen: im Affekt. Der Atomausstieg war beschlossene Sache – und Merkels Credo: „Wir können als erstes Industrieland der Welt die Wende zum Zukunftsstrom schaffen.“
Mit B wie Bankenkrise ging es weiter. Es dauerte weit mehr als ein Jahr nach Beginn der Finanzkrise, bis Merkel in Folge der Lehman-Pleite Maßnahmen der Bankenregulierung für zwingend hielt. Merkel drängte nun auf europäisch geltende Finanzierungs- und Bankenaufsichtsregeln. Und sie versprach „den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind“.
G wie Griechenlandkrise setzt das Alphabet des Zögerns und Stürmens fort. Nach anfänglich rigorosem Drohen der Kanzlerin, dass die „No bail out“-Klausel des EU-Gründungspakts auch im Falle Griechenlands gelten müssten, es also keinen Haushaltsbeistand geben dürfe, kam es am Ende zu drei Rettungspaketen. Merkel prägte für diesen kurzfristig neu eingeschlagenen Kurs einen historischen Satz: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“
Das Flüchtlingsmärchenland
Nun, bei K wie Kriegsflüchtlinge, lässt sich dieses Verhalten des Abwartens und dann Vorangehens wieder beobachten. Noch im ZDF-Sommerinterview hat die Flüchtlingslage für die Kanzlerin erkennbar nicht höchste Priorität. Erst als in Deutschland wieder Brandsätze gegen Asylbewerberheime fliegen, besucht Angela Merkel das Erstaufnahmelager in Heidenau. Sie sieht dort den anschwellenden Hass gegen die Notleidenden – und verwahrt sich dagegen.
Danach ruft sie der amerikanische Präsident an, lobt Deutschlands Führungsrolle in der europäischen Flüchtlingspolitik. Tags darauf werden in Österreich mehr als 70 Flüchtlinge tot in einem Lkw entdeckt – diese Horrormeldung beherrscht das Wochenende. Am folgenden Montag, es ist der 31. August, macht sie unmissverständlich klar, dass jeder Kriegsflüchtling mit deutscher Hilfe rechnen kann. Nun heißt ihre Parole: „Wir haben so vieles geschafft. Wir schaffen das!“
Merkels Kurs ist innenpolitisch hochriskant – auch wenn derzeit ganz Deutschland ein Flüchtlingsmärchenland zu sein scheint. Auch in der EU, vor allem der östlichen, wird es noch viel Überzeugungsarbeit brauchen. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sagt, Deutschland brauche hier „kulturelle Macht, Vorbildhaftigkeit. Spielen über Bande. Also Einfluss gar nicht so sehr auf die Regierungen, als auf die Öffentlichkeiten unserer Nachbarländer“. In Großbritannien wie Frankreich scheint sich wirklich etwas zu bewegen. In Ungarn jedoch nicht. Doch es kommen weitere Kriegsflüchtlinge – Tausende täglich.
Das schafft Fakten. Das Voranpreschen der Kanzlerin scheint daher inzwischen tatsächlich: alternativlos.
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