Berliner Tafel
Ein Volk von Leistungsempfängern: das Ideal von SPD und Grünen?

Entscheidung zum Bürgergeld - Exklusiv für Xing-Leser: Regierungsamtlicher Etikettenschwindel

Nach hitziger Debatte hat der Bundestag heute das von der Ampel-Regierung geplante „Bürgergeld“ abgesegnet. Dass SPD, Grüne und FDP sämtliche Kompromissvorschläge der Union abgelehnt haben, hat Methode.

Hugo Müller-Vogg

Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Wer auf Hartz IV angewiesen ist, leidet besonders unter der Inflation. Nicht bei den Heizkosten, die vom Amt übernommen werden, dafür umso mehr beim Kauf von Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Da wäre eine Erhöhung der Regelsätze zum 1. Januar wirklich angebracht.

Es könnte aber durchaus sein, dass dieser besonders bedürftige Teil der Bevölkerung vorerst nicht mehr Geld bekommt. Denn die Ampel-Regierung verbindet die notwendige Erhöhung der Geldleistungen mit einem tiefgreifenden Umbau des Systems: weg von Hartz IV hin zum neuen Bürgergeld, weg vom Prinzip des Förderns und Forderns hin zu einem „Grundeinkommen light“, weg von der Heranziehung vorhandenen Vermögens hin zu generösem Wegschauen, und – last not least – weg von Sanktionen hin zu fast grenzenlosem Vertrauen.

Wie immer man zu dem neuen, viel großzügigeren und folglich viel teureren Unterstützungssystem stehen mag: Die „größte Sozialstaatsreform seit zwanzig Jahren“ (Arbeitsminister Hubertus Heil/SPD) ist allein wegen des engen Terminplans ein recht gewagtes Projekt. Selbst die Bundesagentur für Arbeit unter Leitung von Heils Amtsvorgängerin, der Ex-SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles, hält die Umsetzung zum Jahreswechsel für kaum machbar. Der Landkreistag und viele Kommunalpolitiker befürchten wegen der umfassenden Änderungen ebenfalls große Probleme in der Praxis.

Zudem hatten die Ampel-Akteure offenbar die notwendige Zustimmung des Bundesrats für eine Formsache gehalten. Das ist sie aber nicht. Denn ohne die Stimmen der acht von der Union mitregierten Länder wird das Gesetz in der Länderkammer scheitern. Es wird deshalb im Vermittlungsausschuss landen, was wiederum viel Zeit kostet.

SPD und Grüne wollen die Opposition als herzlose Neoliberale vorführen

Es hätte nahe gelegen, wenn die Ampel auf den Kompromissvorschlag von CDU/CSU eingegangen wäre: Erhöhung der Transferleistungen zum 1. Januar, um anschließend in aller Ruhe mit den Ländern nach einem Kompromiss zu suchen. Doch die Ampel ist auf Krawall gebürstet: SPD und Grüne wollen die Opposition als herzlose Neoliberale vorführen, die armen Menschen keinen zusätzlichen Euro gönnen. Und das selbst um den Preis, dass die Betroffenen das auszubaden haben.

Das ist eine riskante Taktik. Die meisten Hartz-IV-Empfänger dürften sich nämlich kaum mit den Feinheiten des Föderalismus und den Abgründen parteipolitischen Taktierens beschäftigen. Falls es im Januar nicht mehr Geld gibt, werden sie das „den Politikern“ im Allgemeinen und der Regierung im Besonderen anlasten. Dabei würden sich höhere Regelsätze zu Jahresbeginn und weitere Änderungen etwa zum 1. Juli, wie von der Bundesagentur ins Gespräch gebracht, keineswegs ausschließen. Zudem gelten bei neuen Erstanträgen auf Hartz IV die seit Corona gelockerten Bedingungen. Doch SPD, Grüne und FDP versuchen es lieber mit der Brechstange.

 

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Es ist gut möglich, dass es im Vermittlungsausschuss noch in diesem Jahr zu einem Kompromiss zwischen Bund und Ländern kommt – unabhängig von den verwaltungstechnischen Schwierigkeiten bei einer Umsetzung zum 1. Januar. Meistens lassen sich die Länder ihre Zustimmung abkaufen, völlig unabhängig von der jeweiligen politischen Farbenkonstellation.

Allerdings wird die Union auf Änderungen beim üppig bemessenen Schonvermögen (150.000 Euro bei einem Vier-Personen-Haushalt plus Eigenheim und zwei Autos), bei der Übernahme von Heizkosten in unbegrenzter Höhe und bei den Sanktionsmöglichkeiten für notorisch arbeitsunwillige Hilfeempfänger bestehen müssen. Jedenfalls dann, wenn CDU und CSU ihre sozialpolitischen Prinzipien nicht so leicht über Bord werfen wollen, wie die FDP das beim Bürgergeld tut. Dass die Möglichkeiten des Hinzuverdienstes künftig größer sein sollen als bisher, kann sich die FDP als Erfolg anrechnen. Gleichwohl muss sie bei diesem Projekt Kröten gleich eimerweise schlucken.

Die SPD will das Trauma der „Agenda-Politik“ überwinden

Ja, Hubertus Heil hat durchaus recht: Das Bürgergeld ist die einschneidendste Sozialstaatsreform seit Jahrzehnten. Dabei geht es eben nicht „nur“ um mehr Geld. Für die SPD ist mit dem Wechsel von Hartz IV zum Bürgergeld die Überwindung des Traumas der „Agenda-Politik“ aus ihrer rot-grünen Regierungszeit verbunden. Dabei haben diese Reformen dafür gesorgt, dass die Deutschen besser durch mehrere Krisen gekommen sind als andere Länder.

Doch haben sich die Sozialdemokraten vom eigenen linken Flügel und den Gewerkschaften einreden lassen, es sei unanständig, von Menschen, denen die Steuerzahler helfen, auch eigene Anstrengungen zu erwarten. In diesem Geist soll beim Bürgergeld ein Arbeitsloser pro Monat (!) 150 Euro mehr bekommen, wenn er sich aufrafft, eine Berufsausbildung aufzunehmen oder abzuschließen. Also dankt es der Staat dem angeblich mündigen Bürger mit einer stattlichen Zulage, wenn er für sich selbst etwas tut. Was für ein absurdes Menschenbild!  

Für die Grünen ist das Bürgergeld das Einfallstor in die schöne neue Welt einer bedingungslosen oder bedingungsarmen Grundsicherung für alle. In dieser Welt hat jeder Bürger Anspruch darauf, von der Wiege bis zur Bahre vom Staat versorgt zu werden. Ob der Einzelne dennoch arbeitet oder sich sonstwie selbstverwirklicht, bleibt ihm überlassen. Vater Staat zahlt in jedem Fall. Missbrauch ist natürlich ausgeschlossen, da der Mensch offenbar von Natur aus edel, hilfreich und gut ist. Eine ebenso schöne wie wirklichkeitsfremde Vorstellung.

In Wirklichkeit ist der Begriff Bürgergeld ein regierungsamtlicher Etikettenschwindel. Er soll suggerieren, in der heimeligen Gesellschaft freier Bürger gehöre das Bürgergeld ebenso zur Grundausstattung wie das Wahlrecht oder das Recht auf freie Meinungsäußerung: Bürgergeld als integraler Bestandteil einer vom Engagement ihrer Bürger getragenen Zivilgesellschaft. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem wohlklingenden Wort ein gefährliches Leitbild der rot-grün-gelben BRD, der Bürgergeldrepublik Deutschland: der Staat als Gemeinschaft von staatlich betreuten Bürgergeldberechtigten alias Sozialamtskunden.

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