- Warum alle Religionen Ideologien sind
Kolumne Grauzone: Nach den islamkritischen Aussagen der AfD wurde viel über die Grenze zwischen Religion und Ideologie diskutiert. Dabei besteht da kein Unterschied. Alle Religionen versuchen, das Handeln von Menschen steuern und damit in die Gesellschaft einzugreifen
In Deutschland gibt es über Parteigrenzen hinweg einen unumstößlichen Grundkonsens. Er lautet: Religionen sind keine Ideologien. Und wer Religionen ideologisiert, missbraucht sie. Da ist man sich einig, von der AfD bis zu den Grünen.
Gestritten wird lediglich darüber, als was nun der Islam zu gelten hat. Ist er eine Ideologie oder eine Religion? Oder vielleicht eine Religion, die von manchen als Ideologie missbraucht wird?
Dass auch Religionen Ideologien sein könnten, politische noch dazu, scheint geradezu ausgeschlossen. – Wenn die ganze Debatte nicht so erschütternd wäre, könnte man anfangen zu lachen.
Ideologien sind immer politisch
Denn natürlich sind Religionen Ideologien. Alle. Ohne Ausnahme. Was sollten sie bitteschön sonst sein?
Schauen wir kurz auf den Begriff „Ideologie“: Ohne die Ideologiedebatte der letzten zweihundert Jahre langatmig zu rekapitulieren, kann man vielleicht sagen: Eine Ideologie ist ein System von Überzeugungen (Ideen), deren Wahrheitsanspruch sich jeder Überprüfung entzieht. Ideologen erheben Aussagen, die bestenfalls subjektive Gültigkeit haben können, zu objektiven und allgemeingültigen Tatsachen. In der Regel handelt es sich dabei um Werte oder Normen.
Deshalb sind Ideologien auch immer politisch. Sie zielen darauf ab, bestimmte Werte und Normen durchzusetzen, also das Handeln von Menschen zu steuern. Wer das Handeln von Menschen normativ reglementieren möchte, greift jedoch in die Gesellschaft ein. Er handelt politisch. Eine apolitische Ideologie gibt es daher nicht.
Auch Religionen sind politisch
Religionen sind somit geradezu das Paradebeispiel für Ideologien: Sie behaupten objektive Werte und begründen deren Allgemeingültigkeit damit, dass diese durch eine objektiv gegebene, aber letztlich nicht nachweisbare (weil transzendente) Institution eingesetzt wurden – in der Regel durch einen Gott.
Religionsvertreter weisen den Ideologiestatus von Religionen regelmäßig empört zurück. Für sie sind Religion natürlich keine Ideologien, sondern irgendetwas Höheres. Das ist nicht weiter verwunderlich. Viel erstaunlicher ist jedoch, dass selbst Vertreter des säkularen Staates mitunter so tun, als seien Religionen eine Art ideologiefreie Weltanschauung de luxe.
Was ein hanebüchener Unsinn! Was haben wir denn davon zu halten, wenn etwa Vertreter der christlichen Kirchen mit Blick auf die Bibel vehement gegen aktive Sterbehilfe trommeln? Ist das ideologiefrei? Oder unpolitisch?
Und wie verhält es sich mit der ablehnenden Haltung der Kirchen gegenüber der Abtreibung? Wie mit der katholischen Sexualmoral? Wie mit dem Agitieren der EKD gegen die Atomenergie? Ist das alles unideologisch? Sind das unpolitische Anmerkungen dank höherer Einsicht? Wer das glaubt, wird vermutlich wirklich selig.
Es gibt keinen ideologiefreien Moralismus
Nein, auch Religionen sind politische Ideologien. Und zwar unterschiedslos. Die feinsinnige Differenzierung in Religionen hier und politische Ideologie dort entbehrt jeder Grundlage.
Dass nun ausgerechnet die Politik und viele Medien sich diese absurde Unterscheidung zu Eigen gemacht haben, verwundert allerdings nicht. Denn sowohl in der Politik als auch in den Medien herrscht mitunter die irrige Überzeugung vor, der eigene Moralismus sei gleichsam ideologiefrei. Wer ideologisch so verblendet ist, dass er sich selbst für unideologisch hält, sieht auch das ideologische Potenzial von Religionen nicht.
Tatsächlich sind Ideologien unvermeidbar. Wir alle sind Ideologen! Doch in der Regel sind wir kompromissbereit und verzichten auf die Durchsetzung unseres Weltbildes, solange andere ebenfalls davon absehen, uns zwangszubeglücken. Selbst die christlichen Kirchen mussten unter dem Druck der Aufklärung lernen, dass sie nur eines unter vielen ideologischen Angeboten sind.
Unangebrachter Artenschutz gegenüber Religionen
Damit sind wir beim Islam. Auch der ist eine Ideologie. Und Ideologien können verfassungswidrig sein. Ihnen einfach das Etikett „Religion“ anzuhängen, reicht nicht. Zumindest ist es fragwürdig, Religionen Inhalte, Werte und Handlungen zuzugestehen, die wir weltlichen Ideologien niemals einräumen würden.
Anders formuliert: Die Karte „Religionsfreiheit“ zu ziehen und damit Normen verfassungsrechtlich durchzuwinken, die unter anderen Umständen als verfassungswidrig eingestuft würden, zeugt von gedanklicher Kurzatmigkeit. Und von einem vollkommen unangebrachten Artenschutz gegenüber Religionen. Eine Ideologie ist nicht deshalb unideologisch oder gar weniger gefährlich, weil sie sich auf eine transzendente Instanz beruft.
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Schade, dass selbst hier der Begriff Ideo-logie ideologisch, nämlich normendurchsetzend verwendet wird (auch wenn ich letztl der gleichen Meinung bin: Religionsfreiheit ist keine Greencard zur Verfassungsaushebelung). Mein Vorschlag zur Definition: Ideologie ist ein System aus Ideen, den daraus folgen Handlungsprämissen (Einstellungen), die wederum ein entsprechendes Handeln zur Folge haben. Lebenserfahrungen bestätigen dieses Handeln und damit die dahinter Ideen, o. falsifizieren sie. Die (gemeinschaftliche) Reflexion über das Erfahrene drückt sich in deutenden Traditionen aus. Der Kreislauf beginnt von vorn. Kann aber missbraucht u manipuliert werden, wenn Logik u Vernunft der einzelnen Mitglieder (Ideen-TrägerInnen) nicht als Korrektiv und kreativen Impuls genutzt o. ausgehebelt werden. Das gilt für theistische wie für a-theistische Idee-Systeme! Siehe auch: Radikalisierung, religiöser Atheismus, kommunistische Ersatz-Ideologien (Nordkorea, UdSSR, ...), siehe auch Dschihadismus ...
Der Autor begeht einen Zirkelschluss: Er hat nur ideologisierte Religionen vor Augen und diffamiert diese als Ideologien. Religionen, die mehrdeutig und nicht nur eindeutig, die universal und nicht partial, die sich am Unbedingten und nicht am Bedingten orientieren und die historisch und nicht ad hoc entstanden sind, kann er sich offenbar gar nicht vorstellen. Und dass Religionen Symbolsysteme darstellen, weil die Sprache der Religion Sumbolsprache ist, ist ihm offensichtlich gänzlich fremd. Symbole gehen niemals in dem auf, was sie symbolisieren, sondern nähern sich höchstens dem Symbolisierten an. Kein religiöser Friedenskämpfer z.B. würde jemals behaupten, göttlichen Frieden verwirklichen zu können. Das aber tun Ideologen. Ideologien kennen nur eine Realität und nur eine Real-Sprache. Aber es stimmt: Religionen degenerieren oft, allzu oft zu Ideologien