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Nach der Wahl - Die Türken wollen keinen Sultan

Bei den Neuwahlen in der Türkei hat Erdoğan sein eigentliches Ziel verpasst: die absolute Mehrheit für ein Präsidialsystem. Premierminister Davutoğlu könnte das politisch gespaltene Land nun versöhnen, wenn er sich von Erdoğans Politik lossagt

Autoreninfo

Fatih Aktürk hat Sozialwissenschaften, Politik, Medien und Soziologie an der HHU - Düsseldorf und an der Universität Bremen studiert. Er arbeitet als freier Journalist für diverse überregionale deutsche und türkische Medien. 

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Für die internationale Presse gibt es nach der Türkei-Wahl nur einen großen Sieger: Recep Tayyip Erdoğan. Doch gemessen am großen Ziel des AKP-Gründers hat Erdoğan bei den Neuwahlen zumindest eine kleine Niederlage erlitten. Ex-Premierminister Erdoğan will seit seiner Kandidatur zum Staatspräsidenten eine neue Verfassung und ein Präsidialsystem, um seine Macht weiter auszubauen. Das brachte der Altmeister der AKP auch offen zur Geltung.

Um die Verfassung zu ändern, ist eine Zweidrittelmehrheit nötig und die hat er nicht bekommen. Die Alternative dazu wäre, mit einer 60-Prozent-Mehrheit, also 330 Abgeordneten, das Volk in einem Referendum über die Verfassungsänderung abstimmen zu lassen. Mit einer absoluten Mehrheit in diesem Referendum wäre die Verfassungsänderung dann möglich. Auch darin wurde er aber enttäuscht. Die AKP kam auf satte 312 Abgeordnete. Die AKP könnte dennoch den Anstoß für eine entsprechende Änderung geben und versuchen, einige Stimmen von den Opositionellen zu ergattern. Dies gilt allerdings eher als unwahrscheinlich, dafür sind die ideologischen Gräben zu tief.

Erdoğan bestimmt weiterhin


Der Wahlabend brachte Erdoğan also nicht als den „direkten” Sieger hervor. Der türkische Wähler verdeutlichte auf demokratischem Wege, mit stolzen 87 Prozent Wahlbeteiligung, dass es gegen ein Präsidialsystem ist. Das Volk möchte vom Ministerpräsidenten Davutoğlu regiert werden und nicht von einem Sultan.

Doch wie es um das Standing von Davutoğlu tatsächlich bestellt ist und welche Freiheiten er wirklich genießt, ist seit seiner Einführung als Ministerpräsident fragwürdig. Obwohl „der Professor“ Davutoğlu ein intelligenter Kopf ist und der Türkei politisch neue Impulse bringen könnte, bremst ihn die innerparteiische Realpolitik aus. Viel zu sehr lässt er sich noch leiten von den Anweisungen Erdoğans. Er bleibt in der Spur des Staatspräsidenten. Der 61-jährige Erdoğan wird also weiterhin die türkische Politik bestimmen, auch wenn er es nicht als Sultan tun wird. Schließlich besteht jetzt keine Gefahr mehr, dass die ihm folgsame AKP mit einer anderen Partei koalieren muss. Erdoğans Rhetorik hat dazu stark beigetragen.

Die Kontrollorgane Justiz und Medien bleiben weiterhin zu schwach, um Erdoğan bei Rechtsmissachtungen in die Schranken zu weisen und an das Neutralitätsgebot erinnern zu können. Zeitungen und Fernsehsender fungieren als Propagandamittel für Erdoğan und die AKP. Kritische Medien in der Türkei können mittlerweile an einer Hand abgezählt werden. Allem Anschein nach wird sich das auch nicht ändern. Das hat der jüngste Übergriff auf die regierungskritische Mediengruppe Ipek Koza gezeigt. Fünf Tage vor der Wahl ließ die Regierung Polizisten das Gebäude des Medienkonzerns stürmen und ersetzte die Chefredakteure durch eigens ausgewählte Zwangsverwalter. Prompt wurden die bis dato kritischen Medien zu Erdoğan- und AKP-freundlichen Hofberichterstattern. Wer kurz vor Wahlen so einen offensichtlichen und drastischen Einschnitt in die Pressefreiheit wagt, wird das nach solchen Wahlergebnissen wohl auch fortsetzen.  

Erdoğans Gegnern dürften diese Ergebnisse schlaflose Nächte bereiten. Allen voran die Funktionäre und Anhänger der Gülen-Bewegung. Erdoğan nennt den in den USA lebenden muslimischen Prediger Fethullah Gülen seinen größten Erzfeind. Der Bewegung wirft Erdoğan vor, als “Staat im Staate” zu fungieren. Dabei war Gülen bis 2012 für Erdoğan noch ein Verbündeter. Tatsächlich belastbare Beweise konnte Erdoğan gegen Gülen und seine Sympathisanten nicht erbringen. Umso mehr diffamierten Regierungsmedien sie systematisch.

Welche Stellung Erdoğan heute angesichts der Flüchtlingskrise in Europa genießt und welchen Einfluss er dort haben kann, hat man bei Erdoğans Besuch in Brüssel gesehen. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sprach davon, dass es jetzt nicht die Zeit sei, über Menschenrechte in der Türkei zu sprechen. So entsteht der Eindruck, die Kommission halte den EU-Fortschrittsbericht zurück, um Erdoğan nicht zu verärgern. Ganz zu schweigen von der “Wahlkampfhilfe” der Bundeskanzlerin Angela Merkel.  

Dass der Staatspräsident sein großes Ziel der Errichtung eines Präsidialsystems mit dieser Wahl dennoch nicht hat erreichen können, ist insbesondere dem holprigen Parlamentseinzug der prokurdische HDP zu verdanken. Wäre sie nicht über die hohe Zehn-Prozent-Hürde gekommen, hätte die AKP noch mehr Sitze erhalten. Die HDP hat nun Gelegenheit, ihre Demokratietauglichkeit zu beweisen. Bislang galt sie als der politische Arm der terroristischen PKK. Der Chef der HDP, Selahattin Demirtaş, wies diese Anschuldigungen aber zurück und beansprucht, eine Partei der ganzen Türkei zu sein.

Der größte Verlierer der Neuwahlen ist die nationalistische MHP. Sie erhielt dann doch nur 12,1 Prozent der Stimmen und kommt auf 43 Abgeordnete, verliert damit vier Prozent der Stimmen. Das war die Quittung dafür, auf Neuwahlen zu setzen, obwohl sich die MHP noch im Juni an der Regierungsbildung hätte beteiligen können.

Ministerpräsident Davutoğlu hat historische Chance

 

Es mag paradox klingen, aber kein anderes Wahlergebnis hätte der Türkei mehr Frieden gebracht als dieses. Wenn die Ergebnisse wie im ersten Wahlgang ausgegangen wären und erneut keine Regierung zustande gekommen wäre, hätte sich die ohnehin schon angespannte Lage weiter verschärfen können. Attentate auf Veranstaltungen würden vielleicht weitere Hunderte Leben kosten. So wird die AKP zumindest nicht mehr auf Konfrontation und Gewalt setzen. Da auch die HDP wieder im Parlament sitzt, dürfte sich die PKK auch ruhig verhalten.

Ministerpräsident und AKP-Vorsitzender Davutoğlu hat jetzt eine große Chance, die erst einmal unrealistisch klingen mag: Als nun bekräftigter starker Vorsitzender seiner Partei und Ministerpräsident der Türkei kann er mit einem neuen Politikstil überraschen. Angefangen hat er damit in seiner Balkonrede am Wahlabend: „Die Sprache der Feindseligkeit wird ein Ende finden.” Das größte Problem der Türkei ist aktuell die starke Polarisierung, die der Rhetorik des Staatspräsidenten geschuldet ist. Er hat das Volk in „Ihr” und „Wir”, in „Freunde” und „Feinde” gespalten.

Davutoğlu kann das „Ihr” verschwinden lassen. Dem Land Ruhe und Stabilität bringen. Auch den Friedensprozess kann er wieder aufnehmen, auch das gehört zu seinem Versprechen am Wahlabend. Davutoğlu ist jetzt am Zug. Er kann dem Land neue Impulse geben. Die erste Vorraussetzung dafür ist aber, dass er sich von seinem Präsidenten lossagt.

 

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