- „Die PKK ist militärisch nicht zu besiegen“
Die Türkei hat nicht nur Stellungen des „Islamischen Staates“, sondern erneut auch Ziele der Kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak angegriffen. Aus diesem Anlass weisen wir nochmals auf ein Interview mit dem Türkei-Experten Raoul Motika aus dem Archiv vom Oktober 2011 hin
Die Situation zwischen der kurdischen PKK und dem türkischen Staat droht nach den jüngsten Anschlägen wieder zu eskalieren. CICERO ONLINE sprach mit dem Türkei-Experten Raoul Motika über die aktuelle Lage und über eine mögliche Lösung der Kurdenfrage. Raoul Motika ist Direktor des Orient-Instituts Istanbul (DGIA) und Mitglied des Sprecherrats des TürkeiEuropaZentrums Hamburg.
Kurdische Rebellen haben bei einem Angriff auf die türkische Armee an der Grenze zum Irak 26 Soldaten und Polizisten getötet. Das ist der schwerste Zwischenfall seit den 1980er Jahren. Seit Wochen schon hört man vermehrt von Terroranschlägen seitens der PKK. Herr Professor Motika, warum hat der Konflikt plötzlich wieder so an Schärfe gewonnen?
Die PKK glaubt nicht an einen wirklichen Versöhnungswillen seitens der türkischen Regierung. Die repressive Politik des türkischen Staates den Kurden gegenüber hat seit der AKP-Regierung zwar etwas nachgelassen, doch von einer Gleichberechtigung kann noch immer keine Rede sein. In Bezug auf die kurdische Sprache beispielsweise hat sich viel getan. Es gibt jetzt Fernsehsendungen, Radiosender und Zeitungen auf Kurdisch, das wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen. Doch das harte Vorgehen gegen zivile kurdische Politiker hat viele Kurden wütend gemacht.
Was genau ist da passiert?
Es hat Verhaftungswellen gegen führende Angehörige der kurdischen Partei BDP gegeben, Kommunalpolitiker wie Bürgermeister, Gemeinderäte und Stadträte. Man unterstellt ihnen eine Verbindung zu einer angeblichen Vorfeldorganisation der PKK oder der PKK selbst. Inzwischen sind es tausende Fälle von kurdischen Politikern, die in Untersuchungshaft sitzen oder angeklagt sind. Sechs kurdischen Politikern wurde deshalb nach den Wahlen im Juli der Einzug ins Parlament verwehrt. Sonst ist es Gang und Gäbe, dass man bei Politikern, die im Gefängnis sitzen und noch nicht rechtskräftig verurteilt wurden, das Gerichtsverfahren einstellt, sobald sie ins Parlament gewählt werden. Bei den kurdischen Abgeordneten macht man eine Ausnahme. Da wundert es nicht, dass der türkische Staat als Friedensakteur nicht ernst genommen wird.
Wie sind denn die Verbindungen zwischen BDP und PKK?
Unter den normalen Mitgliedern der BDP gibt es sehr viele Sympathisanten der PKK. Wir haben es hier mit einem Konflikt zu tun, der schon Jahrzehnte andauert und von dem viele betroffen sind. Jeder hat Verwandte oder Bekannte, die direkt unter der staatlichen Repression gelitten haben. Sympathisanten der PKK lassen sich dementsprechend in allen Gesellschaftsschichten finden. Zwar lehnt die BDP offiziell die Gewalt ab, aber sie würde den gewaltsamen Kampf der PKK niemals prinzipiell verurteilen, da sie ansonsten ihre breite Unterstützung verlieren würde. Einzelne, besonders brutale Anschläge hingegen lehnt sie öffentlich immer wieder ab.
Präsident Gül schwor „schreckliche Rache“ auf den jüngsten Anschlag der PKK. Auch Premierminister Erdogan geht in die militärische Offensive im Kampf gegen die PKK. Luftangriffe wurden über den Nordirak geflogen, wo viele Militärlager der PKK liegen. Selbst Bodentruppen werden jetzt eingesetzt. Ist Vergeltung der richtige Weg?
Militärisch ist die Kurdenfrage in keiner Weise zu lösen, denn das ist die Logik einer militärischen Auseinandersetzung. Die letzten 30 Jahre, seitdem die PKK 1982 den bewaffneten Kampf aufgenommen hat, haben gezeigt, dass die militärische Option zu keinem Ergebnis führt. Es ist nicht zu erwarten, dass die PKK militärisch besiegt werden kann. Sie hat einen steten Zufluss von jungen Kämpfern, sie kann genügend Geld generieren, um Waffen einzukaufen und den Kampf aufrechtzuerhalten. Der Konflikt wird durch militärische Aktionen nur noch befeuert und führt zu einer Verhärtung der politischen Fronten, auch zwischen der türkischen und der kurdischen Bevölkerung. Hat eine Seite Tote zu beklagen, sieht sie sich nur bestätigt in der Ablehnung der anderen und verschärft ihre nationalistische Rhetorik.
Was bedeuten die Einsätze türkischer Truppen im Nordirak für die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Irak?
Es ist ganz klar eine Verletzung der irakischen Souveränität, und wenn man das auf andere Staaten übertragen würde, wäre das eigentlich schon ein Kriegsgrund. Nicht nur aus Sicht der irakischen Zentralregierung, sondern gerade aus der Sicht der Führung der autonomen Kurdenregion im Nordirak. Diese kooperiert eigentlich mit Ankara, nur dass sie die PKK nicht aus den Bergen im Nordirak vertreiben will und kann, denn das würde zu einer Art Bürgerkrieg führen. Die PKK hat auch hier viele Unterstützer. Die Luftangriffe sind eher als ein innenpolitisches Zeichen in der Türkei zu sehen. Die irakische Zentralregierung protestiert zwar regelmäßig, aber letztlich ergreift man keine Maßnahmen. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die USA die Türkei im Kampf gegen die PKK unterstützen und die USA im Irak bis zu ihrem Abzug die entscheidende Rolle gespielt haben. Bei Bodentruppen sieht es allerdings anders aus. Durch ihren Einsatz besteht das Risiko, dass das türkische Militär mit den offiziellen kurdischen Truppen im Nordirak in Konflikte gerät, was schnell zu einer Eskalation führen könnte.
Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite, wie hoch die Gefahr eines Bürgerkriegs ist und welche Riskien der Kurdenkonflikt außenpolitisch für die Türkei birgt
Die PKK bereitet sich schon auf die Angriffe der türkischen Armee vor. "Wenn sie kommen wollen, lasst sie kommen", verkündete der PKK-Sprecher Dosdar Hammo offenbar völlig gelassen. Viele Kurden haben Angst, dass die Konflikte der 1990er Jahre zurückkehren, als der Ausnahmezustand über die kurdische Region verhängt wurde. Ist die Angst berechtigt? Besteht gar die Gefahr eines Bürgerkriegs?
Meines Erachtens ist kein Bürgerkrieg zu erwarten. Es hat schon wesentlich schärfere Auseinandersetzungen mit viel mehr Toten gegeben. Die PKK ist militärisch auch nicht mehr so operationsfähig wie sie das noch vor 10 Jahren war. Damals operierte sie noch aus Syrien heraus und unterhielt wesentlich größere Kommandogruppen in der Türkei. Zudem gibt es immer weniger kurdische Führungspersonen, die Gewalt als politisches Mittel gutheißen. Die AKP-Regierung hat außerdem das türkische Militär als eigenständigen Akteur geschwächt. Ich habe die Hoffnung, dass sich auch auf Seiten der Regierung das Ganze mehr auf militärische Gesten beschränkt und man nicht versucht, durch eine umfassende militärische Option diesen Konflikt so eskalieren zu lassen wie das in den 90er Jahren geschehen ist. Das Risiko jetzt besteht vor allem in einer Zunahme von Terroranschlägen in den Großstädten des Westens der Türkei durch Splittergruppen der PKK – so wie wir es aus dem Nahen Osten kennen. Dann bekommen wir es mit einer ganz anderen Eskalationsstufe zu tun und müssen eine weitere Verstärkung der Aggressionen zwischen den kurdischen und türkischen Teilen der Bevölkerung befürchten.
Warum tut sich die Türkei so schwer mit einer Lösung der Kurdenfrage?
Die zentralistische Staatstradition der Türkei steht dem massiv im Wege, alles wird von Ankara aus bestimmt. Der Zentralstaat fußt auf der Ideologie des Türkentums. Bis vor wenigen Jahren noch hat man Kurden als solche praktisch gar nicht anerkannt, ihre Existenz als Volksgruppe völlig verleugnet, ihre Sprache als irgendeinen verdorbenen Dialekt bezeichnet. Im Irak beispielsweise sind die Kurden mittlerweile in einer sehr guten Position. Sie leben in einer autonomen Region im Norden und haben das erreicht, was die türkischen Kurden wahrscheinlich mehrheitlich anstreben. In der Türkei aber fürchtet man immer gleich eine Aufteilung des Landes nach ethnischen Gruppen und es wird auf die Traumata durch die Aufteilungspläne des Landes nach dem ersten Weltkrieg verwiesen. Das ist selbstverständlich unbegründet, denn außer den Kurden gibt es keine einzige derart große Bevölkerungsgruppe, sie machen immerhin 20 Prozent der türkischen Bevölkerung aus, die so örtlich konzentriert lebt.
Wenn eine autonome kurdische Region wie im Nordirak in der Türkei also nicht möglich ist, was wäre dann eine Lösung?
Ein Mittelweg könnte darin bestehen, die staatlichen Institutionen im Rahmen der Demokratisierung des Landes etwas zu dezentralisieren und den Regionen ein relativ hohes Maß an kommunaler und regionaler Selbstverwaltung zuzugestehen, im ganzen Land, unterschiedslos. Das hätte in den nichtkurdischen Regionen kaum Auswirkungen, würde aber in den kurdischen Regionen den nötigen politischen Spielraum zur Lösung eines großen Teils der vorhandenen Forderungen schaffen.
Die Türkei steht sich doch selbst im Weg. Man will das Land nach vorne bringen, sich modernisieren, sich der EU annähern. Das widerspricht alles diesem traditionellen nationalistisch-zentralistischem Modell, das die Anerkennung von Minderheiten verwehrt?
Die Minderheitenfrage ist tatsächlich das größte Problem der Türkei. Der Kurdenkonflikt ist nicht nur teuer, sondern auch außenpolitisch hochproblematisch, weil die Türkei sich mit der Kurdenfrage grenzüberschreitende Konflikte einhandeln kann – mit dem Irak als Zentralstaat sowie mit dem kurdischen Autonomiegebiet im Norden. Auch in den Grenzregionen Syriens gibt es eine zahlenstarke kurdische Bevölkerung, die sich jetzt eindeutig gegen das Assad-Regime gestellt hat. Die PKK genießt dort starke Unterstützung. In Iran beträgt der Anteil der kurdischen, grenznah angesiedelten Bevölkerung mindestens 10 Prozent. Dort verfügt die PKK auch über viele Sympathisanten. Wenn der Konflikt zwischen dem türkischen Staatsapparat und der PKK andauert und eskaliert, dann kann das zu Kooperationen mit den Regierungen der Nachbarländer beitragen. Aber wenn beispielsweise in Syrien der Staat in letzter Konsequenz zu zerfallen droht, dann kann die Kurdenfrage auch sehr schnell grenzüberschreitend eskalieren.
Herr Professor Motika, ich danke Ihnen für das Gespräch.
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