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Twitter-Gründer Jack Dorsey - Der Punkrock-Stratege

Rausgehen, ausbuhen lassen, besser werden. Twitter-Gründer Jack Dorsey hat beim Börsengang eine halbe Milliarde Dollar verdient, aber ums Geld ging es ihm nie

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Christine Mattauch ist freie Wirtschaftskorrespondentin. Sie lebt und arbeitet seit 2007 in New York.

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Es war der 6. November 2011, als Barack Obama gut gelaunt eine kleine Bühne im Weißen Haus betrat und verkündete: „Ich werde jetzt Geschichte machen als erster Präsident, der live tweetet.“ Über den Kurznachrichtendienst Twitter antwortete der Präsident direkt auf die Fragen der Nutzer.

Der Moderator stand mit eingefrorenem Lächeln daneben: ein dünner junger Mann in einem hellgrauen Anzug mit schwarzer Krawatte, so verkrampft, dass er beim Hinsetzen fast den Stuhl verfehlte, nachdem er sich als „Jack Dorsey von Twitter“ vorgestellt hatte. Die Zuschauer wunderten sich, wieso das Unternehmen so einen ungelenken Grünschnabel zum Präsidenten schickte.

Inzwischen hat sich die Welt dramatisch verändert. Twitter ist keine Neuheit mehr, sondern bekannt und etabliert – jeder fünfte amerikanische Internetnutzer ist inzwischen angemeldet. Beim Börsengang im November erlöste die Firma einen Milliardenbetrag. Und jener unsichere junge Mann, der im Weißen Haus vergaß, sich als Gründer von Twitter vorzustellen, ist heute ein Star der Tech-Szene und laut Forbes der sechstjüngste Milliardär der USA: Auf 1,3 Milliarden Dollar beziffert das Wirtschaftsmagazin das Vermögen des 37-Jährigen.

Ein geselliger Mensch ist er nicht


Wer so erfolgreich ist, dem lässt die amerikanische Öffentlichkeit gern ein paar Besonderheiten durchgehen. Dass sich Dorsey als Punker einen Nasenring verpasste, drei Ausbildungen abbrach und kuriose Hobbys wie Botanisches Zeichnen pflegte, gilt aus heutiger Sicht nicht als asozial, sondern als Beleg seiner Genialität. Man muss aber auch etwas schräg ticken, um auf eine Idee wie Twitter zu kommen: Um sich vorstellen zu können, dass es Leute gibt, die sich mit 140 Anschlägen – die Obergrenze für eine Twitter-Kurznachricht – verständigen wollen. Die Spaß daran haben, sich im Telegrammstil zu äußern, mit kryptischen Abkürzungen, die man lernen muss wie einen Code.

Ein geselliger Mensch hätte ein System wie Twitter wahrscheinlich nicht erfunden. Doch kommunikationsstark war Dorsey nie. Der Schauspieler ­Ashton Kutcher, der ihn gut kennt, sagt über Dorsey: „Wenn Jack spricht, zählt jede Silbe.“ Als Kind hatte er einen Sprachfehler und blieb am liebsten für sich. Auch als Heranwachsender war er wortkarg und spröde, ein Eigenbrötler, der unter dem Pseudonym JakDaemon düstere Gedichte und Manifeste ins Internet stellte.

Dorsey wuchs in St. Louis auf, einer Provinzhauptstadt in Missouri. Wie viele Jungs war er fasziniert von Fahrplänen und Landkarten, die er wie Poster an die Wände seines Kinderzimmers hängte. Dann kaufte sein Vater, ein Schiffsliebhaber, einen CB-Funkempfänger, um die Nachrichten der Mississippi-Kapitäne zu verfolgen. Der technikaffine Jack programmierte den Apparat so, dass er Polizeifunk und Krankenwagen abhören konnte. Die rituelle Struktur der Durchsagen faszinierte ihn: Die Teilnehmer meldeten Standort, Ziel und Mission: „Befinden uns in der Market Street Ecke Opernhaus, fahren zum Loretta-Park, kümmern uns um bewusstlose Person.“ Es war ein System, das nach klaren Regeln funktionierte. Dorsey mochte das. Er mochte es so sehr, dass er versuchte eine Software zu bauen, die das, was er hörte, visualisierte.

Bei den meisten Kindern geht so eine Phase irgendwann vorbei. Bei Dorsey jedoch wurde die Suche nach der perfekten virtuellen Ordnung zur fixen Idee. In New York programmierte er ein digitales System, das Fahrradkuriere koordinierte; in San Francisco verbesserte er ein Programm für den Ticketverkauf der Fähre nach Alcatraz. Als sei die Rationalität des Abstrakten die Konstante seines Lebens. Vielleicht war sie das ja auch. Alles andere, was Dorsey anpackte, versandete irgendwie oder ging in die Brüche. Beziehungen zu Frauen. Hobbys wie Massage oder Botanikzeichnen, obwohl er auch die zeitweise so intensiv betrieb, dass er überlegte, damit sein Geld zu verdienen.

Zwei Mal brach er ein Informatik- und Mathematik-Studium ab, zunächst an der University of Missouri, dann an der New York University. Später verließ er vorzeitig eine Schule für Modedesign. 2002 kehrte er in seine Heimatstadt St. Louis zurück wie einer, der es draußen nicht geschafft hat: „Ich fühlte mich wie ein Verlierer.“ Aber er gab nicht auf. Er machte es wie seine Idole, die Punkmusiker von Gruppen wie Operation Ivy and Rancid. Dorsey bewunderte sie, weil sie fast ohne jede Vorbildung mit den Instrumenten experimentierten und direkt live auftraten: „Sie wurden ausgebuht, ein ums andere Mal. Aber sie gaben nicht auf, lernten und wurden besser. Ich fand diese Haltung einfach toll“, sagte er dieses Jahr bei einem Vortrag in New York.

2005 ging er zurück nach San Francisco. Schlug sich mit kleinen Programmierjobs und Babysitten durch. Landete schließlich bei einem Start-up namens Odeo, das sich auf Podcasts spezialisiert hatte. „Die Podcasts interessierten mich nicht im Geringsten“, erinnert sich Dorsey, „aber ich mochte die Leute.“

Als Odeo mangels funktionierenden Geschäftsmodells in die Krise geriet, baten die Chefs ihre Mitarbeiter um Einfälle. Dorsey holte seinen alten Traum wieder aus der Schublade: eine Art Ortungsdienst, den Menschen zur Standortbestimmung nutzen sollten, so wie in seiner Jugend die Ordnungshüter den Polizeifunk. Als Beispiele für Kurznachrichten notierte er seinerzeit „bin im Park“ oder „liege im Bett“. Dass so ein Dienst auch dazu dienen könnte, dass sich Menschen miteinander unterhalten, sich Neuigkeiten mitteilen oder Gefühle, fiel dem Einzelgänger gar nicht ein. Es waren, viel später, die Anwender, die Funktionen vorschlugen wie die, Meldungen gezielt an Personen zu adressieren, oder Diskussionen unter bestimmten Stichworten zu führen.

Odeos Firmenleitung war einverstanden, und ein Team von vier Leuten machte sich an die Arbeit. Was in den darauffolgenden Jahren geschah, davon hat jeder der Beteiligten seine eigene Version. So wie es oft passiert, wenn ein Team nach anfänglichem Erfolg auseinanderbricht. Sicher ist, dass es Dorsey war, der die Software schrieb und am 21. März 2006 unter der Adresse @Jack den ersten offiziellen Tweet absetzte, der heute für die Fans des Dienstes Kultstatus hat: „just setting up my twttr“.

Sicher ist auch, dass der stille Dorsey eine Zeit lang als Vorstandsvorsitzender agierte, Fehler machte und abgelöst wurde; dass er enttäuscht war und half, gegen Evan Williams, seinen Nachfolger als Twitter-Chef, zu intrigieren, der ihn einst zu Odeo geholt hatte.

Im Oktober, kurz vor dem Börsengang, erschienen in den USA fast zeitgleich zwei große Artikel über die Gründungsgeschichte von Twitter, einer in der New York Times und einer im New Yorker. In dem einen ist Dorsey ein Bösewicht, der absichtlich Kollegen aus dem Team drängt. Der andere stellt ihn als verträumten Weltverbesserer dar, der selbst fast kaltgestellt worden wäre. Wenn Dorsey über sein Leben spricht, spart er dieses Kapitel am liebsten aus.

Er ist einer zu dem junge Studenten aufsehen


Für ihn ist es heute wichtiger, dass er sein neues Unternehmen vorantreibt. Square heißt es, eine Software, die jeder nutzen kann, um an einem Tablet oder Laptop Kreditkarten einzulesen. Den Kartenleser verteilt Square kostenlos, auch die App ist gratis. Umsatz macht das Jungunternehmen durch Provisionen auf den Zahlungsverkehr. Die Provisionen liegen etwas niedriger als die der großen Abrechnungskonzerne, und die Technik ist schlanker und schicker. Viele kleine Händler nutzen das Zahlungssystem inzwischen und auch einige große, darunter die Kaffeekette Starbucks. Und Dorsey baut weitere Funktionen wie Square Wallet oder Square Cash auf, die alle das Ziel haben, den Bezahlvorgang zu vereinfachen.

Vor zwei Monaten hatte der Milliardär mal wieder einen öffentlichen Auftritt, an der New Yorker Elitehochschule Columbia. Er, der Studienabbrecher, warb dort um Talente für seine Firma und wurde empfangen wie ein Guru – es war eine Großveranstaltung, mit mehreren Hundert Zuhörern. Wer sich noch an den peinlichen Auftritt mit Obama erinnerte, erkannte den Jungunternehmer kaum wieder: Statt eines dürren Jünglings präsentierte sich ein Mann mit Ausstrahlung, der souverän mit dem Publikum spielte, selbstironisch Fotos von sich als Punk mit blauen Haaren zeigte und auch um spontane Kommentare nicht verlegen war.

Endlich hat er seinen Platz im Leben gefunden. Er wird respektiert. Das Wall Street Journal kürte ihn im vergangenen Jahr zum „Technikinnovator des Jahres“. Auf Twitter folgen ihm 2,5 Millionen Menschen. Dorsey hat sich mit seiner Punkrockstrategie durchgesetzt: einfach Sachen öffentlich ausprobieren, vor aller Augen Fehler machen, besser werden. Er weiß jetzt, was geht und was nicht. Und wie das System Silicon Valley funktioniert.

Bei Twitter ist er heute Chairman, ohne operative Aufgaben. Als Symbolfigur ist er wichtig für das Unternehmen: einer, auf den man hört, wenn er Verbesserungsvorschläge macht. Auch bei der Vorbereitung des Börsengangs setzte das Unternehmen auf die Bekanntheit seines Gründers – Amerika verehrt erfolgreiche Firmengründer, nicht erst seit dem Kult um den verstorbenen Apple-Übervater Steve Jobs. In einem Video für Investoren ist Dorsey in Jeans und mit charmantem Drei-Tage-Bart aufgetreten, wie man sich einen coolen Tech-Unternehmer vorstellt: „Wir starteten Twitter, weil wir das wollten, weil wir es liebten und weil wir sehen wollten, wie andere Leute es nutzen.“

Für ihn ist der Rummel um den erfolgreichen Börsengang vor allem wichtig, um Werbung für sein neues Unternehmen zu machen. Natürlich ist da das Geld. Beim Börsengang von Twitter gehörten ihm 4,7 Prozent der Firma, mehr als 20 Millionen Aktien, die rund eine halbe Milliarde Dollar wert sein dürften. Dorsey, der früher spartanisch in einem Mini-Apartment lebte und nie ein Auto besaß, hat Gefallen am Luxus gefunden.

Er trägt jetzt Hemden von Prada und Dior und fährt BMW. Kürzlich hat er in San Francisco für zehn Millionen Dollar eine Villa mit Blick auf die Golden Gate Bridge gekauft. Dort wohnt er mit seiner Freundin, die ebenfalls erfolgreich in der Internetbranche arbeitet. Die Annehmlichkeiten des Lebens schätzen zu können, gehört vielleicht auch zum Erwachsenwerden. Der ehemalige Veganer erlaubt sich heute auch Fisch und Fleisch. Beim Auftritt an der Columbia University hatte er einen kleinen Bauchansatz. Er stand ihm gut.

 

 

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