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Die sanfte Diktatur

Die „gute Regierung“ will stets nur unser Bestes. Angesichts globaler Gefahren stellt sie das tatkräftig unter Beweis. Mit immer neuen Gesetzen und Verordnungen werden unsere Freiheiten beschränkt – bis aus „good governance“ eine sanfte Diktatur geworden ist

Im Rathaus von Siena sind zwei Fresken von Ambrogio Lorenzetti zu besichtigen, die „die gute Regierung“ und die „Folgen der guten Regierung“ allegorisch inszenieren. Die beiden, im 14.Jahrhundert gemalten Fresken haben in jüngster Zeit eine weltweite Aufmerksamkeit erfahren, die wohl nicht so sehr Lorenzettis Malerkunst als seinen genialen Titeln gilt. Die Idee von der „guten Regierung“, neuzeitlich „good governance“, hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten die Welt erobert: Die USA, die Uno, die Europäische Union, große und kleine Verwaltungen – alle streiten sie um den Lorbeer, die gute, ja die bestmögliche Regierung zu repräsentieren. Nur: Was ist eine gute Regierung? In Lorenzettis malerischer Beschwörung sieht man die antike Gestalt der Securitas (den „Engel der Sicherheit“) über den Territorien des Stadtstaats schweben. Auf der rechten Seite thront der gute Regent, dessen Haupt die Engel des „Vertrauens“, der „Barmherzigkeit“ und der „Hoffnung“ umflattern. In der Fantasie über die „Folgen der guten Regierung“ inszeniert Lorenzetti dann ein urbanes Idyll: Unter den Arkaden arbeitet ein Schuhmacher; ein Tuchhändler feilscht mit seinen Kunden; Handwerker reparieren das Dach eines Hauses. Vornehme junge Mädchen fassen sich einträchtig an den Händen und tanzen unbelästigt einen Reigen. Die „gute Regierung“, die über das friedliche Treiben wacht, sieht man nicht. Sie zeigt sich allenfalls in den intakten Fassaden der Wohnhäuser und Palazzos mit ihren Terrassen und hohen Türmen. Lorenzettis Utopie des „buon governo“ steht am Anfang der neuzeitlichen Demokratie und bezog sich auf einen italienischen Stadtstaat mit ein paar Tausend Einwohnern. Was wird aus der „guten Regierung“, wenn sie es wie in den USA mit 300 oder wie in der EU mit über 400 Millionen Bürgern zu tun hat? Und was wird aus dem „Engel der Sicherheit“, wenn er es gleich mit drei apokalyptischen Gefahren aufnehmen muss – mit der Klimakatastrophe, mit der Volksgesundheitskatastrophe und mit dem internationalen Terrorismus? Wir gehen auf das Zeitalter eines „buon governo“ zu, von dem Lorenzetti sich nichts hat träumen lassen. Es sind ideale Zeiten für ehrgeizige Präsidenten, Minister, Kommissare und Verwaltungsfachleute, die unermüdlich und in sicherer Entfernung von den Bürgern für deren Wohl arbeiten. Angesichts unstreitiger globaler Gefahren wächst ihnen eine neue Art von Autorität zu. Denn sie verfolgen keine eigenen Interessen, ihnen geht es um das Wohl der Menschheit, ja des Planeten. Wo immer sie ihren, von wissenschaftlichen Experten geschärften Blick hinrichten, da brennt es oder schmilzt es. Es ist, als habe ihnen die Natur höchst selbst die Legitimation dazu erteilt, die Bürger mit immer neuen Gesetzen und Anordnungen in Trab zu halten – das Überleben der menschlichen Spezies und vieler anderer Arten steht schließlich auf dem Spiel. Die Bürger sehen dem explosionsartig wachsenden Regel­dschungel und der Beschneidung ihrer Rechte halb zustimmend, halb ratlos zu. Denn alles, was „die gute Regierung“ da beschließt und über sie verhängt, geschieht ja ausschließlich zu ihrem und zum Wohl ihrer Kinder, ist von Experten und wissenschaftlichen Gutachtern abgesichert – es muss geschehen. Das Vertrackte ist, dass die genannten apokalyptischen Gefahren keineswegs erfunden sind, nur Ignoranten bestreiten sie. Andererseits können nur Fachidioten und profilsüchtige Wichtigtuer leugnen, dass sich mindestens so viele unsinnige wie notwendige Anordnungen mit dem noblen Titel einer „dringenden Gefahrenabwehr“ schmücken. Bürger, die nach dem genauen Grund für eine Anordnung fragen, machen sich verdächtig wie seinerzeit im „real existierenden Sozialismus“: Wer damals eine Regel der Obrigkeit infrage stellte, gar gegen sie rebellierte, wurde mit dem Satz eingeschüchtert: „Genosse, du bist doch auch für den Frieden, oder?“ Betrachten wir das Walten des „Engels der Sicherheit“ im internationalen Flugverkehr. Bekanntlich wurde vor sechs oder sieben Jahren ein Fluggast dabei ertappt, als er sich – mit Sprengstoff im Absatz und mörderischen Absichten im Kopf – in ein Flugzeug setzen wollte. Seither ziehen Millionen von Fluggästen bei der Sicherheitskontrolle bereitwillig ihre Schuhe aus, und sie werden es vermutlich noch viele Jahre tun. Manche beschweren sich sogar, wenn diese Prozedur – wie es im vergleichsweise leichtsinnigen Europa gelegentlich der Fall ist – von ihnen nicht verlangt wird. Aber kann man mit Sprengstoff im Absatz ein Flugzeug in die Luft sprengen? Und wenn man es kann – ist es sinnvoll, dass die halbe fliegende Menschheit ihr Verhalten für Jahre und Jahrzehnte an einem einzigen, zum Glück gescheiterten Attentatsversuch ausrichtet? Kann es einen größeren Erfolg des internationalen Terrorismus geben? Dann kam das Verbot von Mineralwasserflaschen, von Parfumflaschen, von Deodorantsprays und Zahnpastatuben. Es berief sich auf einen vom britischen Geheimdienst rekonstruierten Plan britischer Attentäter, die angeblich mithilfe von mitgebrachten Flüssigkeiten einen Flüssigsprengstoff im Flugzeug mixen wollten. Millionen von teuren Parfumflacons sind seither in den Entsorgungstonnen vor der Sicherheitskontrolle gelandet. Meine Sprengstoffexperten sagen mir allerdings, die Herstellung eines Flüssigsprengstoffs erfordere so hohe Temperaturen, wie sie in einer Flugzeugtoilette auf keine Weise zu erzeugen seien. Ich weiß nicht, ob sie recht haben. Aber darf man sich noch erkundigen, ob die Begründung stichhaltig ist, ohne sich verdächtig zu machen? Und welche Massaker man mittels einer Nagelschere oder einer Nagelfeile in einem Flugzeug anrichten kann? Wer so etwas auch nur scherzhaft fragt, begibt sich in den USA in wirkliche Gefahr. „Do not make jokes about security. You could be arrested!“, warnt ein Banner im JFK-Airport. Was passiert mit einer Gesellschaft, die ihr Leben immer mehr auf die Verhinderung von möglichen und unmöglichen Attentaten ausrichtet und in einem permanenten Alarmzustand lebt? Wird sie am Ende nicht ein Leben zur Prävention solcher Attentate führen – ein präventives Leben sozusagen? In welchem Maße trägt das Prinzip, das Verhalten aller Bürger einer nie gekannten Kontrolle zu unterwerfen, um diese oder jene Schreckenstat auszuschließen, zur Vergiftung des öffentlichen Lebens und zum Denunziantentum bei? „Report unusual behaviour“ („Melden Sie ungewöhnliches Betragen“) lautet eine Leuchtschrift über amerikanischen Autobahnen. Im Zeichen drohender globaler Katastrophen wächst selbstverständlich auch die Autorität der „guten Regierung“ in Brüssel, auch wenn nicht gerade jede ihrer zigtausend Bestimmungen über das Überleben der Menschheit entscheidet. Die EU-Bürger haben die 24 Kommissare in Brüssel nicht gewählt, wenige kennen ihre Namen, nicht viele jubeln ihnen zu, wenn sie sich einmal einigen ihrer 420 Millionen Untertanen zeigen. Das demokratische Defizit der Kommissare steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Macht. Tatsächlich haben die 24 Kommissare in vielen Belangen mehr zu sagen als jede von den 27 Regierungen, die sie entsandt haben. Mehr als 80 Prozent aller in Europa gültigen Gesetze werden inzwischen in Brüssel beschlossen. 18167 Verordnungen und 750 Richtlinien, die etwa hunderttausend Seiten füllen, hat die Europäische Union mit ihren 40000 Beamten und Bediensteten zwischen 1998 und 2004 auf den Weg gebracht. Sie bestimmen nicht nur über die Größe und Krümmung einer europafähigen Banane, die eine Länge von mindestens 14 Zentimeter und einen Durchmesser von mindestens 27 Millimeter aufweisen muss. Sie entscheiden zum Beispiel auch darüber, ob – von Helsinki bis nach Palermo – die Wäsche noch im Hof und auf dem Balkon aufgehängt werden darf. Dabei kommt gerade die Anonymität und Bürgerferne solcher Entscheidungen ihrer Durchsetzbarkeit zugute. Denn die EU-Bürger wissen nicht recht, bei wem sie sich beschweren sollen, wenn eine noch so absurde EU-Richtlinie in zigfacher Übersetzung ihren Weg ins weite EU-Reich nimmt. Einer Recherche wegen war ich in diesem Jahr in Rumänien – dem jüngsten Beitrittsland der EU. Es sei herzzerreißend, erzählte mir eine ortskundige Journalistin, in Dörfern, in denen es kaum Licht und Gas und keine Asphaltstraße gebe, die Wirkungen der europäischen Müllverordnung zu beobachten. Am Rand staubiger, kaum befahrener Schotterstraßen würde der nach EU-Norm dreigeteilte Müll der Dorfbewohner auf Müllwagen warten, die nie kommen würden. Globale Herausforderungen verlangen globale Antworten, ist das Credo der „guten Regierung“ im 21.Jahrhundert. Das betrifft selbstverständlich auch die Volksgesundheit. Nehmen wir eine der jüngsten Kampagnen – die Kampagne gegen den Feinstaub. 310000 Bürger Europas würden jährlich an den Folgen von Feinstaub sterben, behauptet eine EU-Kommission. Nun ist Feinstaub bedeutend älter als die Menschheit – wahrscheinlich hat niemand so viel Feinstaub eingeatmet wie die Bewohner der afrikanischen Savannen und die Nomaden in der Sahara. Auch dieser von der Natur produzierte Feinstaub war und ist übrigens gefährlich. Durch die Industriealisierung sind unstreitig weitere gefährliche Feinstaubarten hinzugekommen – aber sind sie tödlich? Kein Computer, meinte ein Experte auf einer Feinstaubtagung in Wien, könne die kombinierte Wirkung von zehn oder mehr Feinstaubpartikeln auf eine Zellkultur ausrechnen. Außerdem, so meinten andere Kollegen, sei keineswegs ausgemacht, ob der Feinstaub im Inneren von Gebäuden nicht gefährlicher sei als der Feinstaub auf den Straßen einer Großstadt. Aber Zweifel und Unsicherheiten können die neuen Menschheitsretter nicht ertragen. „Feinstaub ist dein Staub“, so bewirbt eine Wiener Umweltstadträtin ihre Kampagane gegen die neu entdeckte Menschheitsplage und zählt die Ursachen auf: – Verbrennungsprozesse in Industrie, Gewerbe und Kraftwerken – Verkehr: Dieselmotoren ohne Partikelfilter, Reifenabrieb und Straßenstaub – Hausbrand – vor allem bei Heizungen mit Brennstoffen wie Holz, Kohle, Öl oder Koks – Baustellen und Straßenstreuung im Winter – Erosion – Woran es die tüchtige Stadträtin fehlen ließ, war ein guter Rat, wie der „Dein Staub“-Bewusste und -Zerknirschte dem Ansturm der tückischen Partikel zu Leibe rücken kann. Womit sollte er bitte heizen, wenn nicht mit einem der genannten Brennstoffe? Wie kann er die Erosion der Gebäude und den Reifenabrieb verhindern? (Und was ist mit den biogenen Ursachen und der sogenannten regionalen „Hintergrundbelastung“, die für den weitaus größten Anteil aller Feinstaubarten verantwortlich ist und durch jeden Wind in die Stadt getragen wird?) Soll er all diesen Gefahren mit dem immer bereiten Besen und dem Staubtuch in der Hand entgegentreten? Jede zehnte Autofahrt ausfallen lassen, rät die Stadträtin. Inzwischen steht auch die Feinstaubabgabe von Rauchermännchen und von Streichhölzern auf dem Index der Feinstaubpaniker. Wer ihrer Logik folgt, muss sich irgendwann die Frage stellen, ob es überhaupt noch einen legitimen Grund zum Sterben gibt. Wer stirbt, hat im Leben etwas falsch gemacht – und wenn er nur am Heiligen Abend zu viele Rauchermännchen angezündet hat. Aber das alles ist nur der Anfang. Auf die Kampagnen gegen das Rauchen und den Feinstaub werden die Kampagnen gegen den Alkohol und das Übergewicht folgen. Auch hier gilt, dass nur Ignoranten die Gefahren leugnen können. Namentlich die alarmierende Gewichtszunahme der Bürger in nahezu allen Industrieländern hat epidemische Ausmaße erreicht. Die Folgen des Übergewichts sind in der Wissenschaft unumstritten. Lebensgefährliche Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Bluthochdruck und Herzinfarkt drohen den Übergewichtigen und ihren Krankenversicherungen. Aber wie dieser Epidemie beikommen? Auf Dauer wird es nicht reichen, wenn eine ihrerseits übergewichtige Gesundheitsministerin den Deutschen empfiehlt, täglich 2000 Schritte zu laufen. Eine zukunftsträchtige Lösung wird aus Japan gemeldet. Japan, so schrieb die Neue Zürcher Zeitung am 15.Juni 2008, habe eine neue Gesundheitskampagne gestartet. Neuerdings müsse bei der jährlichen Kontrolluntersuchung der Japaner auch der Bauchumfang gemessen werden. Wer das festgesetzte Höchstmaß überschreite – gemäß einem neuen Gesetz beträgt das obere Limit für den Bauchumfang der Männer 85 Zentimeter, bei den Frauen 90 Zentimeter – handele sich Diätvorschriften ein. Wenn der Delinquent diese Vorschriften nicht befolge, drohe die Umerziehung. Europäer mögen sich jetzt noch an den Kopf fassen: Ausgerechnet die Japaner, die – an den Europäern gemessen – durchschnittlich ein Drittel weniger auf die Waage bringen! Und wieso wird den Frauen eigentlich 5 Zentimeter mehr Bauchumfang zugestanden? Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich die Anwendung und Weiterentwicklung des japanischen Prinzips durch einen motivierten Kommissar in Brüssel vorzustellen. Wann werden in der EU Hamburger, Spaghetti und Pizza verboten und ihre Verkäufer gerichtlich belangt? Wann wird der letzte Berliner Currywurst-Süchtige seine Wurst mit Pommes und Mayonnaise in einem illegalen Keller unter dem Schein von Taschenlampen verzehren? Wahrscheinlich wird auch die neueste Verschärfung der Anti-Raucher-Kampagne in den USA mit der üblichen Verspätung Europa erreichen. Wiederum gilt: Nur die Unbelehrbaren bestreiten, dass Rauchen in öffentlichen Räumen eine gesundheitliche Zumutung für die Nichtraucher ist. Aber auf welche wissenschaftliche Expertise gründet sich die Regel, auf die ich im Frühling dieses Jahres bei einem Besuch in Boston stieß? Es war ein strahlend schöner Tag, und die meisten Gäste in den Bars und Restaurants saßen im Freien. Niemand rauchte. Als ich mir eine Zigarette anzündete, bedeutete mir der Kellner höflich, dass das Rauchen auch im Freien nicht gestattet sei. Niemand, den ich fragte, konnte mir eine Begründung nennen. Ich erfuhr nur, dass Rauchen in Massachusetts und einigen anderen Staaten neuerdings nur noch in 30 Fuß Entfernung von Gebäuden gestattet sei. Offenbar haben wir es hier mit einer neuen Qualität staatlicher Fürsorge zu tun. Die „gute Regierung“ nimmt das längst durchgesetzte und akzeptierte Rauchverbot in öffentlichen Räumen zum Anlass, es ins Freie auszudehnen und auf diese Weise die guten von den schlechten Bürgern zu scheiden. Der gute Bürger, dies will ihm die „gute Regierung“ sagen, ist nicht nur verpflichtet, andere Bürger nicht zu gefährden, er muss selber gesund leben. Und ein wirklich guter Bürger fragt nicht nach den Gründen für eine Anordnung der „guten Regierung“, er gehorcht. Inzwischen gibt es Wohnungsgesellschaften, die riesige Wohnanlagen für Nichtraucher bauen. Nur: Wie will man die anhaltende Gesinnungstreue jedes Wohnungsbesitzers prüfen? Es wird wohl nur mithilfe von hochsensiblen Rauchfühlern und von Nachbarn gehen, die sofort Alarm schlagen, wenn ein Rückfalltäter eine Zigarette auf dem eigenen Balkon anzündet. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Umweltminister Sigmar Gabriel nicht darauf verweist, dass Deutschland im Energiesparen die Nummer eins auf der Welt ist. Wenn jeder Haushalt nur fünf Glühbirnen gegen Sparlampen austauschen würde, verkündete er, könnten in Deutschland eine Million Tonnen Kohlendioxid pro Jahr eingespart werden. Nur: Wie viel sind eine Million Tonnen eingesparten Kohlendioxids im Vergleich zu den Millionen von der hoch subventionierten deutschen Landwirtschaft verbrauchten Tonnen, die ihre Überproduktion mit zusätzlichen Subventionen auf den afrikanischen Märkten verschleudert und Letztere zerstört? Das neue Energieprogramm sei eigentlich eine „Sparbüchse“, verspricht Gabriel, und Deutschland sei „das einzige Land, das schon entsprechende Programme in die Praxis umsetzt“. Aber was ist mit Ländern, die weit mehr Energie verschwenden als Deutschland? Was soll überhaupt der Ehrgeiz der Bundesrepublik, sich als die Nummer eins in Sachen Umweltschutz zu profilieren? Genügen nicht auch die Plätze drei und vier? Soll die Welt neuerdings am deutschen Umweltwesen genesen? Soweit es um den Ehrgeiz geht, in der Erschließung neuer Energiequellen zu den Besten zu gehören – nichts dagegen. Wenn dieser Ehrgeiz jedoch dazu führt, dass Deutschland seinen Strom – nach pflichtschuldiger Abschaltung der deutschen Atomkraftwerke – aus Frankreich importieren muss, das seinen Energiebedarf zu 80 Prozent aus Atomkraftwerken speist, darf sich der Bürger an den Kopf fassen. Vor ein paar Wochen hat China die USA, den bisher größten CO2-Produzenten, auf den zweiten Platz verwiesen. Ein fairer Sieg, könnte man sagen, immerhin stehen hier 1,3 Milliarden vergleichsweise zurückhaltende CO2-Delinquenten 300 Millionen entfesselten CO2-Sündern gegenüber. Schon steht Indien bereit, den Amerikanern den zweiten Rang streitig zu machen. Angesichts solcher Mitspieler nimmt sich der Aufruf an die deutschen Bürger, über ihre „persönliche Umweltbilanz“ Buch zu führen, ebenso heroisch wie lächerlich aus. Das Zeitalter der Aufklärung und des Rechts des Individuums scheint angesichts globaler Bedrohungen seinem Ende entgegenzugehen. Eine neue Epoche von glaubensstarken Bürokraten und Umweltpolizisten, die Wissenschaft gern mit Religion verwechseln, nimmt ihren Anfang. Die neuen Gewissheiten scheinen keiner Ideologie mehr zu bedürfen. „Die gute Regierung“ hat nichts Geringeres als das Überleben der Menschheit im Blick und stützt sich dabei auf angeblich unbezweifelbare wissenschaftliche Erkenntnisse. Eine sanfte Diktatur zum Wohl des Bürgers kündigt sich an. Kein Zweifel: Die Bürger dieser in der Tat bedrohten Menschenwelt müssen eine neue öffentliche Moral entwickeln. Aber wie verhindern sie, dass die neue Moral von selbst ernannten Menschheitsrettern, Philistern und Denunzianten bestimmt wird? Und wie sorgen sie dafür, dass neben dem längst übermächtigen „Engel der Sicherheit“ auch die „Engel des Vertrauens“, der „Barmherzigkeit“ und der „Hoffnung“ überleben? Seit ein paar Monaten geht mir ein Satz im Kopf herum, der Bill Clinton zugeschrieben wird. In zwanzig Jahren, warf er in einer Gesprächsrunde hin, würden die hier Anwesenden nichts mehr essen oder trinken, das nicht in höchstens 25 Kilometern Entfernung von ihrem Wohnort angebaut und produziert worden sei. Der bekennende Sünder Clinton hatte dabei offensichtlich kein Welterlösungsprogramm im Sinn, sondern die zur Neige gehende Ressource Öl und die Wirkung des steigenden Ölpreises auf die Transportunternehmen, die derzeit noch Produkte des Grundbedarfs, die überall herstellbar sind, von einem Ende der Welt zum anderen schaffen. Das Schöne an dieser Prognose ist, dass sie ebenso kühn wie praktikabel ist. Ganz nebenbei wird sie auch unsere Landschaften und unser Selbstgefühl revolutionieren. Man muss kein Mönch werden, um für diese Utopie zu streiten. Foto: Picture Alliance

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