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Genussfeindlichkeit in linken Kreisen - Jeder hat das Recht, Hummer zu genießen

In Deutschland wird sich gern, besonders im linken Milieu, zur Genussunfähigkeit bekannt. Gourmets gelten als „bourgeois“, schlechtes Essen und Trinken wird dagegen als revolutionär gefeiert. Dabei ist eine genussvolle Lebenskultur ein wichtiger Akt der gesellschaftlichen Emanzipation

Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Darf man nach einer Demonstration gegen das Flüchtlingselend am Berliner Alexanderplatz in den nahe gelegenen Gourmettempel „Galeries Lafayette“ gehen, um ein paar Austern und ein Glas Picpoul de Pinet zu genießen? Ist es vertretbar, das frisch überwiesene Honorar einer linken Zeitung für einen Artikel über die soziale Ausgrenzung von Hartz-IV-Empfängern postwendend in eine Kiste Riesling von einem großartigen Mosel-Winzer zu investieren?

Man darf nicht nur – man sollte es sogar unbedingt tun, wenn man Spaß an den genannten Genussmitteln hat und es sich irgendwie leisten kann. Das Pflegen und Propagieren einer genussvollen Lebenskultur ist keineswegs „bourgeois“ oder „dekadent“, sondern ein wichtiger Akt der gesellschaftlichen Emanzipation. Gutes Essen und Trinken ist auch kein Ausdruck von „Massenverachtung“ oder „Entsolidarisierung“. Schließlich geht es keinem Hartz-IV-Empfänger und keinem Flüchtling besser, wenn seine genussfreudigen Unterstützer oder wer auch immer sich was Ordentliches gönnen. Und niemand wird „unglaubwürdig“, weil er sich mal einen Hummer oder eine gute Flasche Champagner leistet, während armen Menschen dieser Genuss leider versagt bleibt.

Recht auf Wein und Hummer

Doch genau das wurde der damaligen Europaabgeordneten und heutigen Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, vorgeworfen. Ausgerechnet die Top-Verdiener vom Spiegel widmeten Wagenknecht im Dezember 2007 einen hämischen Artikel, nachdem sie in Straßburg beim Verspeisen eines Hummers gesehen worden war, und zwar bei einem „feinen Abendessen im Straßburger Restaurant ‚Aux Armes‘, an dem auch (der inzwischen verstorbene) Linken-Chef Lothar Bisky teilnahm.“ 

Wagenknecht ahnte wohl, was auf sie zukommt, und ließ die von einer Kollegin bei dem Essen gemachten Fotos löschen. Das kam raus, und prompt geiferte der Focus: „Offenbar fühlte sie sich bei bourgeoisen Handlungen erwischt – und wollte die fürs Proletarier-Image schädlichen Spuren verwischen: Die Wortführerin der Kommunisten in der Partei Die Linke ist ausgerechnet bei einem luxuriösen Hummer-Essen fotografiert worden.“ Das könnte man getrost als übliche reaktionäre Dampfplauderei aus der Burda-Giftküche verbuchen. Doch die Reaktionen in der eigenen Partei auf ihren „Hummer-Frevel“ klangen ähnlich.

Auch Claus Weselsky, der Vorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), bekam während der erbitterten Tarifauseinandersetzung bei der Deutschen Bahn vom Focus die Luxuskeule präsentiert. Im Brustton der Empörung zitierte das Blatt seine Ex-Frau, die er angeblich angewiesen habe, „keine Weine unter 25 Euro mehr zu kaufen“. Andere Medien hängten sich ran und forderten die streikenden Lokführer auf, ihrem prassenden Vorsitzenden endlich die Gefolgschaft zu verweigern.

Protestantische Prägung der Arbeiterbewegung


Weselsky hat sich dazu nicht geäußert, Wagenknecht verteidigte offensiv das Recht eines jeden Linken, auch Hummer zu essen. Angesichts der auch in linken deutschen Kreisen noch immer weit verbreiteten Genussfeindlichkeit war dies durchaus mutig. Diese wurzelt tief in der protestantischen Ethik, die auch in der Arbeiterbewegung deutliche Spuren hinterlassen hat. Dazu empfiehlt sich die Lektüre der 1904 bis 1905 von dem großen deutschen Soziologen Max Weber veröffentlichten Schriftenreihe „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. Maßgebliche protestantische Strömungen, vor allem der Calvinismus, propagieren laut Weber eine „innerweltliche Askese“ als „Lebensform des permanenten Aufschubs“, der sich in äußerster Sparsamkeit und strenger Arbeitsdisziplin äußert. Dass Askese und Fleiß als gottgewollte Lebensform den optimalen ideologischen Nährboden für den Kapitalismus bilden, liegt auf der Hand.

Die christliche Soziallehre sah in der Ausbeutung der Arbeiter und der darauf basierenden Anhäufung von Reichtum und Luxus bei den Kapitalisten denn auch in erster Linie einen Verstoß gegen die göttliche Ordnung als eine Klassenauseinandersetzung. Die marxistisch geprägte Arbeiterbewegung stellte die Kapitalakkumulation und die private Aneignung des durch „Vernutzung von Arbeitskraft“ (Karl Marx) erzielten Mehrwerts zwar prinzipiell in Frage, übernahm den protestantisch-preußischen Asketismus aber weitgehend bruchlos.

Auch in der Weimarer Republik pflegten die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften das Bild vom stets selbstlosen, disziplinierten und genügsamen Proletarier als Antipode zum schlemmenden Kapitalisten. Diese wurden in Karikaturen gerne mit dicken Zigarren im Mund, vor übervollen Essenstellern mit allerlei Leckereien oder mit Sektgläsern in der Hand dargestellt. Die Zielvorstellung, sich im Zuge einer sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft endlich auch an hochwertigen Genussmitteln erfreuen zu können, war obsolet. Erwähnt sei ferner die auch in der deutschen Arbeiterklasse stark verwurzelte „Erbfeindschaft“ zu Frankreich, die jenseits der geopolitischen und ökonomischen Konkurrenz dieser beiden Großmächte vor allem vom Bild des lasterhaften und genusssüchtigen Franzosen geprägt war.

Bescheidenheit ist keine Tugend


Grundzüge des Asketismus und der Genussfeindlich- bzw. -unfähigkeit sind in Deutschland auch in der heutigen Zeit nicht nur, aber besonders deutlich in linken Milieus verwurzelt. In Frankreich und einigen anderen etwas südlicher gelegenen Ländern wissen jedenfalls auch Gewerkschaften und linke Organisationen anständig zu feiern. Wer mal eine Mai-Feier bretonischer Sozialisten erlebt hat, wird sich angenehm an die frischen Austern, die exzellenten Langostinos mit Knoblauchmayonnaise und den dazu gereichten „Gros Plant“ erinnern. Auch bei den Festen portugiesischer Kommunisten scheint es nie an gegrillten Sardinen, tollen Bacalhau-Gerichten und anständigem Wein zu mangeln. Es ist wohl kein Zufall, dass die genannten Länder historisch eben nicht vom Protestantismus geprägt sind.

Und in Deutschland? Der Besuch von „Mai-Festen“ des DGB verbietet sich nicht nur aufgrund der langweiligen Reden und der furchtbaren Musik, sondern auch wegen der unerträglichen Geruchsbelästigung durch altes Frittenfett und angekokelte Bratwürste. Dazu kommt noch abgestandenes, mieses Bier aus Plastik- oder Pappbechern.

Selbst den Kreuzberger Autonomen nebst extra angereisten Erlebnistouristen fiel bei ihren früheren Randalefestspielen am 1. Mai oftmals nichts Besseres ein, als nachts Billig-Supermärkte zu entglasen, um anschließend palettenweise „Sternburg-Pils“ sowie Kartoffelchips palettenweise ins Freie zu tragen, anstatt im Vorfeld mit einer gut geplanten Kommandoaktion ausreichende Mengen Kaviar, Gänsestopfleber und Veuve Clicquot-Champagner aus dem KaDeWe zu besorgen.

Es bleibt der Champagner


Wahrscheinlich haben sie auch Dario Fos Hymne auf die direkte Umverteilung („Bezahlt wird nicht“) weder gelesen, noch im Theater gesehen. Während französische Studenten 2009 im Rahmen von landesweiten Protesten nicht nur die altehrwürdige Sorbonne besetzten, sondern sich auch postwendend die edlen Speise- und Getränkevorräte des Direktors aneigneten, gibt es bei studentischen und anderen Soli-Festen in Deutschland außer der obligatorischen „veganen Volxküche“ bestenfalls „Sternburg-Pils“ und furchtbaren Wein aus Plastikbechern – falls nicht irgendeine Vollversammlung vorher den Verzicht auf Alkohol beschlossen hat. Dabei wäre doch jedes linke Fest ein optimales Podium für die Ansage: „Wir haben nicht nur die richtigen Forderungen und die besseren Argumente, sondern auch richtig gutes Essen und guten Wein.“

Das Strickmuster ist einfach: Gutes Essen und Trinken bedeutet bourgeois und „herrschende Klasse“; schlechtes Essen und Trinken ist proletarisch, revolutionär. Dabei macht doch jede Revolte nur Sinn, wenn sie bessere Lebensverhältnisse für alle zum Ziel hat und dieses Ideal in der Phase des Kampfes bereits antizipiert. Linkes Bewusstsein sollte doch beinhalten, dass der gesellschaftliche Reichtum gerechter verteilt werden muss. Es geht darum, einen angemessenen Anteil an diesem Reichtum einzufordern, sowohl als gesellschaftliche Norm, wie auch individuell.

Keiner hat das wohl besser auf den Punkt gebracht als die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die vor einigen Monaten selbst Ziel eines mörderischen islamistischen Anschlags war. In der wenige Tage nach dem Pariser Massaker erschienenen Ausgabe ist auf dem Titelbild ein von Kugeln durchsiebter Mann mit einem Glas in der Hand zu sehen. Darunter die Botschaft: „Ils ont les Armes. On les emmerde. On a le Champagne!“ Zu Deutsch: „Sie haben die Waffen. Wir scheißen auf sie. Wir haben den Champagner!“

Das wäre in Deutschland wohl kaum möglich und würde hierzulande wohl eher verlegenes Hüsteln auslösen. Viele Linke sind nicht nur von Geschmack- sondern auch von ausgesprochener Humorlosigkeit geprägt und gehen zum Lachen wahrscheinlich in den Keller. Aber eine linke Bewegung, die die Bedeutung des Genusses in allen erdenklichen Formen und die damit verbundenen Lebensfreude gering schätzt oder gar negiert, ist weder emanzipatorisch noch radikal, sondern reaktionär.

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