Die Beiseite - Wie kann man weise werden?

Basho in Kyoto zu lesen wäre kitschig und ist unnötig - wenn man seine Lieblings-Haikus gespeichert hat

Es ist nicht nur traurig, das Älterwerden – Illusionen, die keine mehr sind, können Freiheit werden. Langsames Laufen auf ruhigen Wegen, die Jahreszeit für das lieben, was sie ist, und nicht, für was man sie gerne halten möchte. Tief atmen und Bäume schauen, sich freuen, dass man da ist und laufen kann und riechen und sich wünschen, noch viele Wiederholungen zu erleben. Nicht die Hoffnung ist da, die sagt, dass es nun begänne, das richtige Leben, sondern wissen: das Leben ist und ich mittendrin. Ist nicht mehr, als wozu ich es gemacht habe, und Glück gehabt dabei. Ein feines Leben. Dem es egal ist, welche Jahreszeit sich vor der Tür befindet. Das nichts mehr erwartet und kaum noch enttäuscht werden kann. Nicht von der Dummheit der Zeit, in der ich lebe, nicht mehr denken, alles wird immer falscher, sondern wissen, dass es zu jeder Zeit falsch war und zu jeder Zeit Tausende die gleichen Gedanken hatten: die Welt zu retten, den Menschen gute Ideen zu geben. Es wiederholt sich. Millio­nen Mal, seit Millionen Jahren, und das ist gut so.

Alles beginnt von vorne, wie zum ersten Mal, wie eine zweite Chance.

Und draußen ist Frühsommer, und es wird warm, und in der Nacht singen Vögel sehr klar und laut und lassen mich nicht schlafen, und in der Müdigkeit, der fleischwarmen Luft, die ins Zimmer tritt, verwirrt sich der Geist und glaubt in jener Minute: Vielleicht, wenn du morgen erwachst, wird doch noch ein Wunder geschehen. Manchmal ist es etwas sehr Kleines.

Ich entdeckte Basho irgendwann. Ich war noch weniger wer als heute, bestand aus Außenwahrnehmung und Ideen, aus Worten, die ich mir geborgt hatte und Aktionen, die nur unfroh machen konnten. Das Haiku, an das ich mich erinnere, war:

auf diesem wege
wandert kein einziger mensch
am abend im herbst

Ich hatte keine Ahnung von Haikus. Das Lesen von Basho führte nicht dazu, dass ich Japanisch lernte oder mich mit der Geschichte der Silben beschäftigte. Aber es hat mich Basho-süchtig gemacht. Es kam mir vor, als hätte er verstanden, worum es mir ging, und was festzuhalten mein Verstand zu klein war: Wie kann man weiterleben, wenn man die Endlichkeit verstanden hat? Wie kann man erwachen am Morgen und Bankgeschäfte machen, ein Buch schreiben oder Kinder erziehen, mit dem Wissen, dass unsere Zeit hier ein trauriger Witz ist? Muss man nicht unentwegt weinen, an einem Herbsttag, es riecht golden, und das Licht ist verschwommen, und ein See liegt da, und wissen – ich werde das nie mehr sehen, bald, wenn ich tot bin. Ich werde keine Spuren hinterlassen, die Welt wird kein besserer Ort geworden sein, durch mich, und ich werde nicht einen Menschen dazu gebracht haben, ein sinnvolles
Leben zu führen, weil ich selber nicht weiß, was der Sinn eines Lebens sein kann.

Irgendwann, nachdem ich Basho entdeckte, der bereits wohltuende drei Jahrhunderte tot war – meint: keine Homestorys in der «Bunten», kein Juryvorsitz in «Deutschland sucht den Pop-Literaten», keine Talkshows –, reiste ich nach Japan. Ich dachte, die Antwort auf meine nicht klar formulierte Frage (Wie kann man weise werden? Ich dachte damals wirklich, das könne man lernen) wäre dort zu finden. Ich fand, wie im Land Tucholskys oder Borcherts: verbaute Städte, kaufsüchtige Menschen, Rushhours und Power Lunches, Neonlicht und Autobahnen. Keine Weisheit, keine Ruhe. Und kam dann nach Kyoto.

In einem Bambuswald stand ein altes Teehaus. Holz-Schiebewände, Tatami am Boden. Dort saß ich, aus Gründen alleine. Mehrere Stunden. Die Sonne warf goldene Flecken auf den Moosboden, das Holz roch nach Frieden, die Vögel hielten den Schnabel vor lauter Schönheit, und Zeit gab es nicht mehr. Die Suche nach einem Sinn gab es nicht mehr. Menschen gab es nicht mehr und Geld und neue Schuhe und werde ich berühmt sein und wichtig und einen Mann finden oder ein Pferd – nichts gab es dort.
Basho in Kyoto zu lesen, wäre Kitsch gewesen. Auch unnötig. Ich hatte meine Lieblings-Haikus gespeichert.

In diesem Herbst –
wie schwindet das Jahr dahin
Wolke und Vogel –

Das Begreifen, dass nichts egal ist und zugleich alles. Dass man sich nicht zu wichtig nehmen muss und weinen kann, weil man unwichtig ist, glücklich sein wegen Sonnenflecken auf Moosboden, und den Winter fürchten. Alles geht nebeneinander, und vielleicht ist der einzige Sinn, sich aufzulösen, in Bambuswäldern und Holzhäusern.

Ich fuhr wieder heim, ich habe nie mehr in einem Büro gearbeitet seitdem, versucht, nichts mehr zu tun, an das ich nicht glauben kann, versucht, freundlich zu sein und niemanden zu belästigen, mich selber am wenigsten, mit falschen Ideen und zu lauter Musik. Es ist mir mäßig gelungen. Und doch hatte ich eine neue Idee bekommen, und immer noch ist mein Verstand zu klein, sie festzuhalten. Aber vielleicht geht es nur darum, Ideen zu bekommen, einen Schritt neben sich zu treten. Vielleicht ändert ein Haiku nichts, vielleicht ändert Kunst nichts. Aber für einen Moment zu glauben, man könne sich gegen eine Idee austau­schen, die größer ist als man selber, nimmt die Traurigkeit und macht einen lächeln, um die lieben kleinen Bemühungen, sein Leben zu etwas Freundlichem zu machen. Und wieder einmal ein Wunder zu erleben.

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