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(picture alliance) Wird von einer Genossenschaft getragen – die „taz“

Genossenschaften - Ungeahnter Boom einer alten Idee

Sie retten städtische Hallenbäder. Sie nehmen urbane Brachflächen als Gemeinschaftsgärten in Besitz und bieten Stromkonzernen die Stirn. 2012 soll das „Internationale Jahr der Genossenschaften“ werden, erklären die Vereinten Nationen- in Deutschland erlebt die Idee des gemeinschaftlichen Handelns längst einen ungeahnten Boom

Für Angela Merkel war es ein Besuch im politischen Wellnessbereich. Kein Dauerzoff ums Betreuungsgeld, kein Clinch um Vorratsdatenspeicherung. Nur über Edles, Schönes konnte die Kanzlerin am Mittwochabend beim Frühlingsempfang des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbandes referieren. Um Solidarität ging es da, um Gemeinsinn, also um lauter recht regierungsferne, aber gleichwohl hochpolitische Dinge. Denn jenseits der Politik und von ihr kaum gefördert und beachtet, erlebt eine alte Idee von gemeinschaftlichem Wirtschaften und Handeln in Deutschland eine Renaissance. Immer mehr Bürger werden zu Genossen. Sie investieren in demokratisch-verfasste Genossenschaftsprojekte. Weil sie sich durch kooperatives Wirtschaften finanzielle Vorteile erhoffen. Vor allem aber, weil sie ihre unmittelbaren Belange selbst in die Hand nehmen wollen.

Gut 18 Millionen Bundesbürger, so bilanziert der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV), sind derzeit Mitglied einer Genossenschaft. Die meisten merken nur nicht viel davon. Fast jeder vierte ist also Genosse. Nur die meisten merken wenig davon. Als Kunde einer Raiffeisenbank oder Mieter einer Wohnungsbaugenossenschaft ist das Genosse-Sein eher Formsache. Niedrige Sparzinsen, milde Mieterhöhungen das war`s.

Aber daneben lebt jetzt auch der alte Genossenschaftsgedanke von aktiver Mitgliedseinmischung und Unterstützung wieder auf. „Es gibt einen Trend. Seit fünf, sechs Jahren gibt es da eine deutliche Steigerung“, beobachtet Dr. Andreas Wieg vom DGVR. Pro Jahr kommen in Deutschland derzeit 200 bis 250 neugegründete Genossenschaften hinzu. Das klingt nicht viel – und ist doch eine Verzehnfachung des Zuwachses gegenüber den zurückliegenden Jahren.

Dabei schien die Idee vom gemeinschaftlichen Einkaufen und Vermarkten, die der Sozialreformer Friedrich-Wilhelm Raiffeisen vor gut 160 Jahren mit seinem „Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“ ins Leben gerufen hatte, in Deutschland längst allmählich abzusterben. Genossenschaft – das roch nach muffigem Saatgut und verstaubten Sparkassenkästchen im Kolonialwarenladen. Oder es blinkte der Warnhinweis: Vorsicht: „Sozialismus“ und „alternativ  geht es alles schief“ linker Kollektivbetriebe. Mit beidem hat der neue Gründungsboom nur wenig zu tun.

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Stärkster Motor des Genossenschafts-Booms ist der Energiesektor. Quer durch die Republik haben sich im Gefolge  von Atomausstieg, Klimawandel und Energiewende mittlerweile weit über 300 dezentrale Energiegenossenschaften gebildet. Etliche haben sich zusammengeschlossen, um so den Strom aus ihren Windparks oder Photovoltaikanlagen besser vermarkten zu können. Meist sind es aber auch ganze Gemeinden, die mit ihrer eigenen Genossenschaft den Umstieg auf klimafreundliche Energien selbst in die Hand nehmen und sich aus der Abhängigkeit der Stromriesen befreien wollen.

So wie es nach Tschernobyl die „Stromrebellen“ der kleinen Schwarzwaldgemeinde Schönau vorgemacht haben mit einem eigenen Elektrizitätswerk. Inzwischen haben die Schönauer Bürger auch ihr Stromnetz in Eigenregie übernommen. Sie sind damit Pioniere für den Trend: in Zeiten von Politikverdrossenheit, Finanzkrise und Privatisierung versuchen immer mehr Bürger  vor Ort Strom, Gas-, Wasserversorgung  wieder zu einer gesellschaftlichen Angelegenheit zu machen.

 Die Energiegenossenschaften machen mittlerweile rund Zweidrittel der Genossenschafts- Neugründungen aus, Tendenz steigend.  Der Rest ist ein bunter Strauß von unterschiedlichen Ideen. Da ist die Softwaregenossenschaft, die sich von dieser kooperativen Unternehmensform flexibleres Arbeiten verspricht, da ist die Imkergenossenschaft, zu der Landwirte zusammenfinden, weil ihnen Bienenpflege und Honigvermarktung allein über den Kopf wachsen würden. Da ist der kleine Dorfladen, den sich die Bewohner durch ihre Finanzeinlagen sichern oder die Baugenossenschaft in bester Citylage, die auf bezahlbaren Wohnraum ohne Profitspanne setzt.

Längst nicht immer sind es altruistische Motive, die Bürger zu Genossen werden lassen. Gerade in ländlichen Gebieten, wo sich der Staat angesichts von klammen Kassen  und demografischem Wandel  immer mehr aus der öffentlichen Daseinsvorsorge verabschiedet, ist der Bürgerzusammenschluss oft schlichte Notwendigkeit- wenn etwa die Buslinie zur Kreisstadt eingestellt oder das Schwimmbad trocken gelegt werden sollen. „Aber meist sind es nicht allein ökonomische Gründe“, beobachtet DGRV-Sprecher Wieg und erzählt das Beispiel von der Gemeinde, wo eine Bürgergenossenschaft zum Bau eines Stadiondaches dem örtlichen Fußballverein den Klassenerhalt sicherte. Statt satter Dividende gibt es für die Einleger eine Stadiondauerkarte.

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Ähnlich sicherten sich vor genau 20 Jahren die Leser der alternativen Tageszeitung taz mit ihren Genossenschaftseinlagen nicht viel mehr als morgendliche Lektüre ihrer Zeitung - aber auch die Mitsprache bei deren Verlagsentscheidungen. Die einst skeptisch beäugte taz-Verlagsgenossenschaft besteht mittlerweile aus 11.700 Mitgliedern, die über die stolze Einlagesumme von 11 Millionen Euro verfügen.

„Es gibt die schlichte Notwendigkeit zu kooperativem Handeln, es gibt aber auch einen neuen gemeinschaftlichen Spirit“, beobachtet Luise Tremel von „Futur 2“ einer Stiftung, die sich mit gesellschaftlichen Initiativen und Trends für klimaverträgliche, gerechtere Lebensformen beschäftigt. Im Zuge der Finanzkrise und der neuen Kapitalismuskritik sei vor allem bei jungen Leuten das Bedürfnis gewachsen, Gemeinschaft anders zu gestalten, sagt Tremel. Gleichzeitig schießen Baugenossenschaften für gemeinsames Wohnen im Alter wie Pilze aus dem Boden.

Im Zeitalter der Globalisierung und Politikverdrossenheit gibt es also offenbar auch das: das Bedürfnis nach kollektiver Mitsprache und zivilgesellschaftlicher Verantwortung in einem übersichtlichem Handlungsrahmen. Was die 68er Generation mit ihren Alternativprojekten nur in Nischen erprobte – und was oft genug scheiterte, gewinnt offenbar wieder eine neue Anziehungskraft –generationenübergreifend, pragmatisch und bis hinein in die Mitte der Gesellschaft – mit professionellem Management, klaren Strukturen und nicht zu unterschätzendem Finanzpotenzial im Rücken.

Am gleichen Tag, als Angela Merkel die Genossenschaftsidee lobte, stellte sich in Berlin eine neu gegründete Bürger-Energie-Genossenschaft vor. Die will dem Energieriesen Vattenfall 2014 das Monopol auf das Stromnetz der Hauptstadt mit seinen zwei Millionen Kunden abspenstig machen. Es wäre die  bisher lauteste Kampfansage des  Genossen Bürger an Politik und Wirtschaft für mehr Mitsprache.

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