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Roman „Americanah“ - „Ich wurde erst schwarz, als ich nach Amerika kam“

Nach der Lektüre des nigerianisch-amerikanischen Romans „Americanah“ von Chimamanda Ngozi Adichie hat der weiße Leser verstanden, was es heißt, in unseren aufgeklärten westlichen Gesellschaften schwarz zu sein

Autoreninfo

Frauke Meyer-Gosau ist Redakteurin des Magazins Literaturen.

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Ifemelu ist Nigerianerin, und sie fällt nicht nur dadurch auf, dass sie schön ist. Ifemelu hat vor allem ihren eigenen Kopf, und sie sagt, was sie denkt, ganz spontan und ungebremst; das ist nicht nur in Nigeria ungewöhnlich. In einer Mittelschichtfamilie wächst sie in Lagos auf – der stille, auf die Einhaltung guter Manieren und die perfekte Beherrschung der englischen Sprache bedachte Vater verliert seine Arbeit, als er sich weigert, seine deutlich jüngere neue Vorgesetzte mit dem Ehrentitel „Mummy“ anzureden, die tief religiöse Mutter wechselt häufig die Sekten, deren Vorschriften sie sich jeweils inbrünstig hingibt, für jedes erdenkliche Ereignis hat sie eine (zumeist ziemlich kuriose) religiöse Erklärung parat.

„Wenn du dich dafür entscheidest, nach Amerika zu kommen, wirst du schwarz“


Ifemelu wiederum erlernt von Kindesbeinen an nicht nur die Stammessprache Igbo, sondern auch Nigerias Amtssprache Englisch. Und in der Schule, in der sie von ihrem beharrlichen Lehrer Mr. Agbo in der englischen Aussprache gemäß der BBC-Norm unterwiesen wird, lernt sie auch den jungen Obinze kennen. Er ist der Sohn einer Professorin, die an die Universität von Lagos strafversetzt wurde, nachdem sie sich angeblich mit einem anderen Professor geschlagen und auch noch dessen Gewand zerrissen hatte. Ihr Sohn Obinze ist ein begeisterter Leser, still, klug und sanft – wäre „Americanah“, der in den USA preisgekrönte Roman der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, nichts als die Liebesgeschichte von Ifemelu und Obinze, er würde auch dann unser Leserherz im Sturm erobern.

Doch „Americanah“ erzählt noch weit mehr. Schlägt man das Buch nach 605 atemlos verschlungenen Seiten zu, hat man nicht nur ganz nebenbei einen Minimalwortschatz der Igbo-Sprache erworben – der weiße Leser hat überdies verstanden, was es heißt, in unseren aufgeklärten westlichen Gesellschaften schwarz zu sein. Dies nämlich müssen auch Ifemelu und Obinze lernen – sie in den USA, er in Großbritannien –, und es ist eine Erfahrung, die beide beinahe auseinandertreibt. „Lieber nicht-amerikanischer Schwarzer“, wird Ifemelu eines Tages in ihrem Blog „Raceteenth oder ein paar Beobachtungen über schwarze Amerikaner (früher als Neger bekannt) von einer nicht-amerikanischen Schwarzen“ schreiben: „Wenn du dich dafür entscheidest, nach Amerika zu kommen, wirst du schwarz.“ Einer dunkelhäutigen Dichterin, die angeblich problemlos mit einem Weißen lebt, wirft sie an den Kopf: „Ich komme aus einem Land, in dem Rasse kein Thema war. Ich habe mich selbst nicht als Schwarze gesehen, ich wurde erst schwarz, als ich nach Amerika kam.“ Und das bedeutet, Schwierigkeiten zu haben, eine qualifizierte Arbeit zu finden, es heißt, so schnell wie möglich den amerikanischen Akzent anzunehmen und – seine Haare zu glätten: Die Frisur, ob glatt, in Zöpfe geflochten oder als Afro, ist ein politisches Statement.

„Americanah“ erzählt von einem Prozess allmählicher Bewusstwerdung


Im Roman schickt sich die amerikanische Gesellschaft gerade an, zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Schwarzen zu ihrem Präsidenten zu wählen; das schärft den Blick auf die Rasseverhältnisse. Zentral aber erzählt „Americanah“ von einem Prozess allmählicher Bewusstwerdung, einem unfreiwilligen learning by doing, das für Ifemelu beginnt, als sie zum Studium nach Amerika kommt. Im Laufe von 15 Jahren wird sie hier zur „Americanah“: einer Afrikanerin, die eine zweite Sozialisation in der amerikanischen Kultur durchlaufen hat, und die nach niederschmetternden Erfahrungen – in deren Verlauf sie auch den Kontakt zu Obinze, der kein Einreisevisum für die USA erhalten hat, abbricht – schließlich ganz etabliert mit einem großzügigen Stipendium in Princeton lebt. Für ein paar Jahre hat sie eine eheähnliche Beziehung mit dem reichen weißen Sonnyboy Curt, später tut sie sich mit dem schwarzamerikanischen Yale-Professor Blaine zusammen und scheint in dessen Kreis schwarzer wie weißer Intellektueller und Künstler mit all ihrem Wissensdurst, ihrer Denklust und ihrem Widerspruchsgeist bestens aufgehoben.

Und doch entscheidet sie sich eines Tages, die USA zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Damit tritt sie in die dritte Stufe ihrer Entwicklung ein: Sie muss sich in ihre Herkunftsgesellschaft neu integrieren, in der Obinze inzwischen – verheiratet und Vater einer kleinen Tochter – mit der Unterstützung eines mächtigen Mannes namens „Chief“ zum vermögenden Immobilienmakler geworden ist. Die Frage ist schließlich, ob die beiden mit ihren so unterschiedlichen Erfahrungen und Prägungen künftig werden zusammenleben können.

Temporeiche Handlung mit vielen Fragen


Dass es selbst jemanden mit dem offenen und selbstbewussten Naturell Ifemelus schlichtweg umwerfen kann, mit dem indirekten, oft unbewussten Rassismus in den USA Bekanntschaft zu machen, ist die eine Lektion, die der Leser hier zusammen mit Ifemelu lernt. Durch sie erhält er aber auch einen tiefen Einblick in das, was von außen unterschiedslos als „das schwarze Amerika“ wahrgenommen wird: Weshalb sind die prägenden Erfahrungen für in den USA geborene Schwarze so prinzipiell anders als diejenigen zugewanderter Schwarzer? Was unterscheidet Jamaikaner oder Haitianer in ihrem Verhältnis zur neuen Gesellschaft so wesentlich von den Nachkommen der schwarzen Sklaven? Was bedeuten die unterschiedlichen Abstufungen der schwarzen Hautfarbe für die gesellschaftliche Position, wie werden sie unter den Schwarzen selbst bewertet? Und was macht die Lage einer nach Nigeria zurückgekehrten „Americanah“ am Ende so besonders schwierig?

Dies sind die Fragen, die im Verlauf der temporeichen Handlung gestellt und beantwortet werden. Mal sind sie Gegenstand von Ifemelus offensiven und teils sehr witzigen Blogs, mal ergeben sie sich auf Partys, in Beziehungen oder am Arbeitsplatz, dann wieder sind sie der Anlass für Selbstzweifel und Selbstreflexion. Ifemelu jedenfalls zieht eines Tages zwei Konsequenzen, die anzeigen, dass sie allmählich zu einem neuen Selbstbewusstsein unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen findet: Ihren mittlerweile perfekten amerikanischen Akzent legt sie zugunsten von Mr. Agbos makelloser BBC-Intonation ab und macht so mit jedem Satz, den sie spricht, deutlich, dass sie eine Fremde ist und dazu auch steht. Aus derselben Haltung heraus verweigert sie sich auch der schmerzhaften Prozedur des Haare-Glättens und legt sich erst einen eindrucksvollen Afro, dann eine Zöpfchen-Frisur zu.
Von einer umwegigen Reise zum eigenen Ich erzählt „Americanah“ also, voller Komik, mit einiger Tragik und jähen Überraschungen. Der Roman verschweigt die Ängste, Nöte und Beklemmungen nicht, doch vor allem leiten ihn Ifemelus Neugier, ihre scharfe Beobachtung und ihr immer zu Kapriolen und Brüskierungen bereiter Witz. Diese Stimmung färbt schließlich auch auf den Leser ab: Plötzlich sieht er nicht nur seine eigene Gesellschaft, sondern auch sein eigenes weißes Selbst mit anderen Augen.

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