- „Märchen sind zutiefst emanzipatorisch“
Märchen waren einst Literatur für Erwachsene. Märchenforscher Heinz Rölleke erklärt wie die Brüder Grimm die Märchen enterotisierten und sie kindgerecht verbreiteten. Er fordert: Märchen für alle!
Herr Prof. Rölleke, welches ist Ihr liebstes
Märchen?
Rumpelstilzchen.
Warum?
Weil es eine ungeheure Fülle von Weltsichten und Welterfahrung
transportiert. Rumpelstilzchen ist äußerst vielschichtig. Es
behandelt sozialpolitische Themen und sogar medizingeschichtliche.
Wir finden dort beispielsweise Kinder- und Säuglingssterblichkeit.
Die Figur des Müllers liefert das Motiv des verfemten Berufs. Und
sie finden auch die Rolle der Frau, die immer nur ja oder gar
nichts sagt, immer nur weint und erst wenn sie am Ende aktiv wird,
für Erlösung sorgt.
Alice Schwarzer in Märchenform also?
Zutiefst emanzipatorisch. Das Märchen zeigt zunächst die typische
Rolle der Frau der damaligen Zeit. Sobald es aber im Märchen darauf
ankommt, wird die Frau aktiv, schmeißt alles um und es kommt zum
Happy End. Mit ihrer angepassten Haltung hätte es kein gutes Ende
gegeben. Oder denken Sie mal an den Froschkönig: Das Mädchen
ermordet ihren Bräutigam, bricht ihr Versprechen, gehorcht weder
Vater noch König und bekommt am Ende den Königssohn. Das ist doch
emanzipatorisch!
Woher stammen die Märchen der Brüder Grimm?
Die Märchensammlung geht zurück auf Clemens Brentano, den großen
romantischen Dichter. Er hat den Brüdern gesagt, er wolle ein
Märchenbuch machen und sie beauftragt, Märchen zu sammeln. Die
jungen Leute haben es auch brav getan. Nach drei Jahren ließ sich
Brentano dann die Manuskripte zukommen, hat aber weiter nichts mehr
von sich hören lassen. Auf Anraten von Achim von Armin haben die
Brüder sie dann selbst veröffentlicht.
Viele der gesammelten Märchen ließen sich die Brüder
Grimm von einer gewissen Dorothea Viehmann erzählen.
Ja, Viehmann haben sie auch im Vorwort als einzige namentlich
genannt und sie später immer mit der Unterschrift „Märchenfrau“
abgebildet. Sie haben sie als Idealerzählerin herausgestellt, um
den Leser glauben zu machen, so seien alle Märchenerzähler gewesen.
Das stimmte aber absolut nicht. Sie war die einzige Quelle, die
älter war. Alle Zuschreibungen von Wilhelm Grimm waren falsch.
Sie war also keineswegs die alte hessische Bäuerin, als
die die Grimms sie darstellten?
Sie war eine Schneidersfrau. Die Geschichten hatte sie auch nicht
vom Dorfe, wie es die Grimms suggerierten. Sie ist sozusagen in
einer Großstadtkneipe groß geworden. Dort kehren keine Dörfler ein.
Viehmann hatte ein riesiges Repertoire, hatte offenbar ein sehr
gutes Gedächtnis. Die Grimms haben über 40 Texte von ihr
aufgenommen. Aber sie haben wissentlich den falschen Eindruck von
ihr vermittelt. In Wirklichkeit waren die Märchenerzählerinnen alle
blutjung, zwischen 16 und 18, alles gut bürgerliche Töchter, die
meisten mit französischen Vorfahren. Das wollte in der
Öffentlichkeit aber niemand hören. Denn die Märchen sollten auch
eine nationale Tat gegen Napoleon sein. Eine Sammlung ur-deutschen
Kulturguts. Da konnten die Brüder Grimm natürlich schlecht sagen,
dass zwei Drittel ihrer Märchen französischen Ursprungs sind.
Es gab also eine politische Motivation?
Aber natürlich. Allerdings haben die Brüder Grimm nicht „Deutsche
Märchen“ geschrieben, was alle anderen zu dieser Zeit taten. Das
wussten sie dann doch besser, dass Märchen international sind.
Grimms erste Fassung richtete sich
ausdrücklich an Erwachsene…
Ja, es war ursprünglich ein rein wissenschaftliches Unternehmen. Es
sollte der Märchenforschung dienen und der Erhaltung von
Märchentexten. Märchen waren bis dahin sowieso immer nur Literatur
für Erwachsene. Es gibt eine Tradition aus dem 18. Jahrhundert,
dass Märchen immer obszöne Geschichten waren. Nicht für Kinder
gedacht. Die französischen Märchen waren sowieso nur für
Erwachsene, Unterhaltung für den Hochadel am Kamin. Sobald Märchen
erzählt wurden, schickte man die Kinder aus dem Zimmer. Dass
Märchen auch für Kinder sind, ist eine jüngere Entwicklung. Das
Märchenbuch der Grimms verkaufte sich erst aber überhaupt nicht.
Die ersten beiden Auflagen waren ein totaler Flopp. Dann machte
Wilhelm Grimm eine Auswahlausgabe mit fünfzig Texten. Sie wurde
billiger, Bilder kamen hinzu, auf wissenschaftliche Anmerkungen
wurde verzichtet. Die Ausgabe wurde insgesamt kindgerechter und
schon war der Erfolg da.
Vor allem Erotik und Gewalt wurden
minimiert.
Aus „Sie“ wurde „Es“. Bei Dornröschen wurde aus „Er bückte sich und
küsste sie“ ab der dritten Auflage „Er bückte sich und küsste es“.
Sie heiraten natürlich trotzdem, aber die Figuren werden alle
enterotisert, quasi in den Kinderzustand versetzt. Beim Froschkönig
heißt es ursprünglich. „Sie warf den Frosch gegen die Wand, da fiel
ein schöner junger Prinz ins Bett und sie schliefen vergnügt
miteinander ein“. Das Bett ist später immer noch da, aber es kommt
erst eine Trauungszeremonie. Es wird erst der Papa dazu gerufen,
damit er seinen Segen gibt und dann kann die Kutsche losfahren.
Die Texte wurden also angeglichen, um dem zeitgemäßen
Geschmack des vorwiegend bürgerlichen Publikums
entgegenzukommen.
Ja, es ist auch immer ein Missverständnis gewesen, dass die Nazis
im Besonderen geschürt haben, die Märchen seien so beliebt, weil
sie das deutsche Wesen widergespiegelt hätten. Nein, es geht nicht
ums Deutsche, sondern ums Bürgerliche. Überall dort, wo das
Bürgerliche dominierte, waren und sind Grimms Märchen ein großer
Erfolg. Gleichzeitig ist es aber falsch zu behaupten, es seien
bürgerliche Tugenden, die in den Märchen gepredigt würden. Das
stimmt nicht. Wenn das Mädchen den Frosch ermordet und dem Vater
widerspricht, dann sind das keine bürgerlichen Tugenden. Oder
Rotkäppchen. Die Mutter sagt: „Geh nicht vom rechten Wege ab!“ Und
was macht Rotkäppchen? Sie geht vom rechten Wege ab. Die Märchen
sind weder bürgerlich-moralisch noch sind sie
christlich-moralisch.
Aber aus der Mutter in „Hänsel und Gretel“ machte
Wilhelm kurzerhand eine Stiefmutter, wohl auch, weil die böse
Mutter mit dem Mutterbild des Bürgertums nicht zu vereinbaren
war…
Das ist das Schlimmste, was Wilhelm Grimm in seinen sonstigen
Verbesserungen geleistet hat. Er hatte einen Mutterkomplex und
konnte es nicht übers Herz bringen, dass in seinen Märchen Mütter
eine so böse Rolle spielen. Deutsche Mütter tun so etwas nicht.
Dann hat er leider aus sieben Müttern Stiefmütter gemacht. Damit
werden die Geschichten zum Teil auch völlig schief, denn sie
handeln immer auch von Ablösungsgeschichten, von Abnabelung von der
Mutter. Mit der Stiefmutter wird das schwieriger. Insofern sind die
Texte psychologisch zum Teil unstimmig. Ansonsten sind aber 90
Prozent der Veränderung von Wilhelm Grimm eindeutige
Verbesserungen.
Haben die Brüder Grimm mit der Niederschrift der Märchen
nicht der eigentlichen Märchenlogik widersprochen? Die wahre
Märchenform ist doch die mündliche Erzählform, bei der sich die
Geschichte von Mensch zu Mensch weiterspinnt, verändert. Mit Grimms
Aufzeichnungen wurde den Märchen die ureigene Dynamik
geraubt.
Natürlich. Aber die Märchen drohten vergessen zu werden. Das ist
keine Phrase, das war so. Die Brüder Grimm haben sich dann gesagt,
wenn wir die Texte retten wollen, müssen wir sie aufschreiben und
auch veröffentlichen. Damit ist natürlich die Variationsbreite der
mündlichen Überlieferung tot. Es gab früher sechs, sieben
Dornröschenfassungen, die alle ein bisschen voneinander abwichen.
Der eine erzählte es so, der andere so und die Geschichten standen
gleichberechtigt nebeneinander. Jetzt, da die Grimm‘sche Fassung
existiert, sagt man, meine Version ist die Richtige, denn das steht
ja so bei Grimm. Und die vermeintlich falschen Versionen werden
vergessen. Wilhelm Grimm hat das sofort erfasst, und versucht
entgegenzusteuern, in dem er die Texte von Auflage zu Auflage ein
bisschen änderte, damit sie zumindest zu seinen Lebzeiten im Fluss
blieben.
Was waren das eigentlich für Typen, die Brüder? Die Rede
ist immer von den ewigen Junggesellen.
Jacob war ein ganz verbissener Wissenschaftler. Seinen unzähligen
Handschriften zufolge muss er mindestens zwanzig Stunden am Tag
gearbeitet haben. Schon Heinrich Heine hat über Jacob gesagt, der
ist mit dem Teufel im Bunde. Ein Mensch kann so etwas gar nicht
leisten. Jacob hatte für Frauen oder Freundschaften auch für
musische Dinge überhaupt keine Zeit. Er hat nur gearbeitet,
verbiestert gearbeitet. Er wurde dadurch sehr unleidlich, gerade
als Kritiker und putzte alles runter, was nicht seiner Façon
entsprach. Wilhelm war der Geselligere, in den sich auch viele
Damen verliebt hatten. Er war musisch sehr veranlagt, liebte Musik,
konnte sehr gut zeichnen. Jacob sagte immer: „Mein Bruder hat die
weichere Feder“. Wilhelm hat nicht so hart formuliert wie Jacob.
Das sieht man auch den Märchen an. Wilhelm schrieb sehr geschmeidig
uns anpassungsfähig.
Die perfekte Kombination. Da treffen sich Wissenschaft
und Prosa.
Völlig perfekt. Jacob hat sich später aber ein wenig zurückgezogen
von dem Unternehmen und unter der Hand immer gegrollt, weil er der
Meinung war, Wilhelm verändere zu viel an den Texten. Die
wissenschaftlichen Anmerkungen waren Jakob stets wichtiger als die
Texte und der Textstil.
Warum sollte man heute noch Grimm lesen bzw.
vorlesen?
Nach wie vor haben Märchen eine außerordentliche Bedeutung. Kinder
brauchen Märchen. Sie sind wichtig für die kindliche
Frühentwicklung. Sie lernen Literatur kennen. Ein Vierjähriger, der
Hänsel und Gretel hört, identifiziert sich mit den Kindern. Auf
einmal ist da ein Stück Literatur, in das ein Kind förmlich
hineinsteigt. Märchen leisten dieses Identifikationsangebot, das
auch Erwachsene noch wahrnehmen. Es ist sehr wichtig, zu lernen,
sich mit einer anderen Figur zu freuen, zu leiden. Kinder gewinnen
durch Märchen ein Urvertrauen. Wir brauchen Märchen! Es ist der
letzte Rest literarischer Allgemeinbildung.
Also Märchen für alle!
Ja, auf jeden Fall!
Welches Märchen würden Sie dann der Politik
empfehlen?
Die weiße Schlange. Das kennen sie nicht mehr, nicht wahr? Ein
König hat eine weiße Schlange und wenn man ein Stück davon isst,
kann man wunderbar sprechen und Gedanken lesen. Das wünscht man der
Politik auch manchmal, dass sie so ein Zaubermittel hätte, damit
die Sache ein bisschen besser würde.
Herr Rölleke, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Timo Stein
Heinz Rölleke ist ein deutscher Germanist und Erzählforscher.1999 wurde ihm der Brüder Grimm-Preis der Philipps-Universität Marburg verliehen, 2006 der Reichelsheimer Märchenpreis. Seit September 2002 ist Professor Rölleke Präsident der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft. 2004 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse
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