TITEL: Von Glück reden - Lebendiges Durchwurschteln

Was die professionellen Philosophen sagen: Michael Hampe und Kwame Anthony Appiah über das gute Leben

Wer Michael Hampe fragt, was Glück für ihn selbst bedeute, den verweist er auf sein Buch. «Eigentlich sollte Ihre Frage der letzte Satz zumindest in Andeutungen beantworten», gibt er per E-Mail zurück. Und weiter: «In der Welt vorzukommen und sich loyal zu ihr gehörig zu fühlen, ohne über sich oder die Welt nachzudenken, aber doch zu merken, dass man da ist – so ungefähr ist glücklich sein für mich persönlich.» Tatsächlich, so ähnlich steht es ein wenig versteckt im Anhang, kurz nach der Danksagung. Da erwähnt Hampe seinen Sohn, dem das Buch gewidmet ist: «Wenn ich mit ihm etwas unternehme, denke ich nicht mehr berufsmäßig über die Welt und mich selbst nach, sondern komme in der Welt vor. Deshalb hat er einen nicht unerheblichen Anteil zum Inhalt dieser Schrift beigetragen.»

Zuvor hat Michael Hampe sechs Kapitel lang alles getan, um eigene Bekenntnisse zu vermeiden: Er lässt vier fiktive Philosophen vier unterschiedliche Wege zum Glück durchdenken, einem fünften überträgt er die Aufgabe, diese Abhandlungen herauszugeben und zu kommentieren, und schließlich lässt er den Herausgeber umkommen: Dessen engster Freund bringt die Anthologie zu Ende und berichtet aus dem Leben des Verstorbenen. All diese Figuren sinnieren über Glück und das gute Leben, aber keine von ihnen ist identisch mit dem Autor. Hampe scheint hinter ihnen zu verschwinden. Erst im Nachwort, fast widerwillig, erhebt er selbst seine Stimme. «Es ist eine Illusion der Lebens- und Glücksratgeber zu glauben, man könnte an-hand einer Checkliste vorab klären, wie das Leben zu gestalten sei, nach welchen Prinzipien Entscheidungen getroffen werden müssten und sich so die Lebenserfahrung ersparen», heißt es da. In der Tat, «Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück» ist das Gegenteil eines Ratgebers. Es ist ein Buch, das die Dinge kompliziert. Und das ist nur realistisch.


Kein Jargon der Normalwissenschaft

Die Beobachtung des Philosophen und Bestsellerautors Richard David Precht ist eindeutig: Die Frage nach dem Lebensglück markiert die Geburt der abendländischen Philosophie, doch die real existierende Hochschulphilosophie der Gegenwart hat sie aus dem Blick verloren und den Ratgeber-Büchern überlassen. Aristoteles wusste, dass alle Menschen nach Glück streben – nicht nach dem Glück im Spiel oder anderen Zufällen, sondern nach eudaimonia, Glückseligkeit. Diese hielt er für das höchste aller Güter und richtete seine «Nikomachische Ethik» darauf aus. Heute dagegen wird man Philosoph, indem man andere Philosophen kommentiert. Nicht, wie ein Leben gelingen könne, ist die Frage der modernen Fachdisziplin, sondern, wie man zum Beispiel Neoaristoteliker wird.

Michael Hampe ist selbst ein Kind des akademischen Betriebs. 1961 geboren, 1984 Magister der Philosophie, 1989 Promotion, zusätzlich Studium der Humanbiologie, 1994 Habilitation, Professor seit 1997. Sein Buch ist gewissermaßen die Ausnahme von Prechts Regel: ein Hochschullehrer, der für ein allgemein interessiertes Publikum übers Glück schreibt.

Eine zweite Ausnahme unter den Sachbüchern dieses Herbstes bestätigt diese Regel: die neuen Essays von Kwame Anthony Appiah. Vor zwei Jahren wurde Appiah, ein englisch-ghanaisch-amerikanisches Glückskind mit Lehrstuhl in Princeton, dem deutschen Publikum mit seiner «Philosophie des Weltbürgertums» bekannt (siehe „Literaturen” 11/2007); nun hat er «Übungen zum guten Leben» verfasst. Appiah wie Hampe kehren also zur philosophischen Ur-Frage zurück, dabei sind sie beide mit allen Wassern des heutigen Theorie-Designs gewaschen. Beide meiden den fußnotengestützten Jargon der Normalwissenschaft und wenden sich an die versprengten Reste dessen, was einst Bildungsbürgertum hieß. Was kommt nun dabei heraus, wenn brillante Wissenschaftler einem allgemeinen Publikum Geschichten übers Glück erzählen?

Kein Mensch aus Fleisch und Blut trägt nur eine Brille

Eben die Kluft zwischen grauer Wissenschaft und dem Leben ist der Ausgangspunkt für Michael Hampe. Sein fiktiver Buch-Herausgeber Stanley Low wendet sich mit Anfang zwanzig der Philosophie zu, mit einer romantischen Sehnsucht nach intel­lektuellen Freundschaften wie in der «Bloomsbury Group» um Virginia Woolf, E. M. Forster und John Maynard Keynes.

Zwischen studentischem Chaos und hohler Pflichterfüllung hegt er «die Überzeugung, durch ein akademisches Studium der Philosophie lernen zu können, mein Leben zu führen». Kein Wunder, dass diese Hoffnung enttäuscht wird. Erst im Ruhestand – nach dem Scheitern seiner Habilitation versauerte er auf einem Posten bei einer Akademie in der niedersächsischen Provinz – begegnet ihm die alte Frage wieder, als er für die Akademie die Einsendungen auf eine Preisfrage begutachtet: «Kann das menschliche Leben vervollkommnet werden und wenn ja, auf welchem Weg können die Menschen das Glück finden?» Die besten vier Antworten bilden den Kern des Buches.

Antwort eins lautet: Glück wird erreicht, indem Unglück vermieden wird, und zwar durch technisch-wissenschaftlichen Fortschritt; Krankheiten beispielsweise lassen sich immer besser eindämmen. Antwort zwei: Es nützt nichts, die Welt etwa durch Technik zu verändern, vielmehr kommt es darauf an, an sich selbst zu arbeiten, um Seelenruhe zu erlangen und so glücklich zu werden. Antwort drei: Glück ist ein unmögliches Ziel; das Leben wird schon besser, wenn man diese unrealistische Phantasie aufgibt. Antwort vier: Es ist sinnlos, etwas Unerreichbares als Glück zu bezeichnen; eher sollte man darunter intensive Erfahrungen verstehen, die sich im Rahmen einer gewissen Sicherheit, wenn auch nicht sicher vorhersehbar, einstellen mögen.

Jeder Standpunkt scheint glasklar. Wer sich auf die Abhand­lungen einlässt (die durchaus ihre Längen haben, zumal ihr Ergebnis jeweils von vornherein feststeht), sieht die Welt jeweils ganz durch die Brille des naturwissenschaftlich orientierten Fortschrittsoptimisten, der religiös inspirierten Seelenarbeiterin, des Glücksskeptikers oder des moderierenden Begriffsanalytikers. Erst während der Lektüre erhärtet sich der Verdacht, dass kein Mensch aus Fleisch und Blut ausschließlich mit der einen oder der anderen Brille lebt: Wer wollte bestreiten, dass technischer Fortschritt Unglück mindern kann? Und wer wollte, weil er der Technik vertraut, gleich die Sorge um seine Seele fallen lassen? Stanley Low, dem fiktiven Herausgeber, und Gabriel Kolk, seinem Freund, der das Schlusskapitel schreibt, ergeht es ähnlich wie den Menschen aus Fleisch und Blut: Sie hängen nicht entweder der einen oder der anderen Position an; mehr noch, sie vermeiden jede Festlegung. Low geht wohl nicht zuletzt daran zugrunde, jedenfalls stirbt er unglücklich – während für Kolk die «eigene Standpunktlosigkeit ein ständiger Grund zur Heiterkeit ist»: «Denn ich will die Welt nicht von einem Standpunkt wahrnehmen, sondern in ihr vorkommen.»


Jeder nach seiner Fasson

Es sei dahingestellt, ob es möglich ist, in der Welt vorzukommen, ohne automatisch immer auch irgendwo zu stehen, also einen Standpunkt einzunehmen. Jedenfalls trennen diesen Satz nur wenige Seiten von Michael Hampes Nachwort, von seinem eigenen Wunsch, an der Welt teilzuhaben – und von seinem Standpunkt der weitestgehenden Enthaltung: Seine «Vier Meditationen über das Glück», dieser «philosophische Kanon» ist, zusammengenommen, ein Loblied der Vielstimmigkeit. Unterschiede anzuerkennen, so die Botschaft, ist die Grundvoraussetzung fürs Glück; die Unfähigkeit, sie anzuerkennen, der erste Schritt ins Unglück. Inspiriert ist diese Haltung vom großen amerikanischen Philosophen Stanley Cavell. Doch etwas weniger elaboriert, kennt sie auch der preußische Volksmund: Unterm Alten Fritz, so geht die Rede, konnte jeder nach seiner Fasson selig werden.

Und Anthony Appiah? Seine «Ethischen Experimente» sind anders angelegt als «Das vollkommene Leben»: Appiah verschafft der Moralphilosophie ein Update durch neue Erkenntnisse aus Psychologie, Gehirnforschung und Evolutionsbiologie. Naturwissenschaftlich informiert, prüft er klassische philosophische Dilemmata: Darf ich im Straßenverkehr ein unschuldiges Leben riskieren, wenn ich ein anderes retten kann? Doch seine Botschaften sind denen von Michael Hampe eng verwandt. Auch Appiah richtet sein Denken an der Annahme aus, dass alle Menschen nach eudaimonia streben. Auch er kennt eine Vielfalt von Begriffen und Wegen des Glücks. Und ganz zum Schluss zieht er sich als Philosoph zurück: «Gerade weil die Lebensgestaltung eine Tätigkeit ist», schreibt Appiah, «dürfen wir erwarten, aus Experimenten mit dem Leben mehr zu lernen als aus philosophischen Experimenten.» Michael Hampe wird noch deutlicher: Alles Grübeln übers Glück ist gut und schön – aber vor allem eine «geistige Übung», als Meditation, die nicht zuletzt die Grenzen solcher Erwägung lehrte. Der Nachvollzug der Theorie ist «eine praktische Vorbedingung für die Einsicht, dass das behauptende und erklärende Geschäft für die Suche nach dem vollkommenen Leben bedeutungslos ist». Warum dann lesen? Als «Therapie vom Theoretisieren über das Glück».

Beide Autoren spornen nicht unbedingt zum Philosophieren an, sondern zum lebendigen Durchwurschteln: Denken hilft bei der Suche nach dem gelingenden Leben nur am Rande. Von Glück lässt sich vor allem reden.

 

Michael Hampe
Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück
Hanser, München 2009. 303 S., 21,50 €

Kwame Anthony Appiah
Ethische Experimente. Übungen zum guten Leben
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
C. H. Beck, München 2009. 268 S., 19,90 €

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