Die Goll-Affäre - Auslöschung auf Raten

Seit 1953 sah sich Paul Celan den Plagiatsvorwürfen der Witwe seines Freundes Yvan Goll ausgesetzt: eine Affäre mit Folgen

Alles hatte so gut begonnen. Paul Celan hatte seine Heimatstadt Czernowitz in der Bukowina im April 1945 endgültig verlassen und – über Bukarest und Wien – im Sommer 1948 Paris erreicht. Im November 1949 gelang es ihm, «nach einem vollen Jahr Pariser Einsamkeit», mit dem dreißig Jahre älteren Yvan Goll zusammenzutreffen. Celan, den der Surrealismus seit seinen Studientagen in Tours 1938/39 faszinierte und der ihn vor allem in seiner rumänischen Vari­ante bestens kannte, schätzte Goll als

Lyriker aus diesem Geist. Dass Goll Jude war, musste Celans Wunsch, ihn kennen zu lernen, verstärken. Und als er ihm und seiner Frau Claire endlich aus seinen Gedichten vorlesen konnte, gewann er auf Anhieb die hohe Wertschätzung und Sympathie beider – so weitgehend, dass Yvan Goll den jungen Lyriker und drei andere Dichterfreunde kurz vor seinem Tod testamentarisch damit betraute, seine Werke in gültiger Form herauszugeben.

Auch nach Golls Tod im Februar 1950 blieb Claire Goll zunächst Celan gewogen, sie nannte ihn einen «großen Dichter und treuen Freund Yvans» und ihr «liebes Päulchen». Erst als dieser, um die Jahreswende 1951/52, die noch unübersetzten franzö­sischen Gedichte Yvan Golls für den Geschmack der Witwe zu «celanisch» übersetzte und auch sonst den «poetischen Pakt» nicht zu den von ihr diktierten Bedingungen einhalten wollte (sie degradierten ihn zu einem anonym bleibenden Zulieferer), kam es zum Bruch. Nach dem 29. Januar 1952 haben die beiden sich nie mehr gesehen.
Mittels vervielfältigter Briefe an Kritiker, Verlage und Rundfunkredaktionen begann Claire Goll im folgenden Jahr, Celan vorzuwerfen, er habe die Gedichte ihres verstorbenen Gatten plagiiert. Natürlich erfuhr auch Celan davon. 1956 forcierte sie dieses Verfahren, jetzt auch mit anonymen Briefen, die nicht ohne Wirkung blieben. Drei Jahre später, im Laufe des Jahres 1960, stießen die Diffamierungen auf breite Resonanz.

In der April-Ausgabe der zweitklassigen Münchner Literaturzeitschrift «Baubudenpoet» erschien Claire Golls Artikel «Unbekanntes über Paul Celan», der den Autor explizit des Diebstahls am Werk ihres Mannes beschuldigte und ihn obendrein charakterlich verunglimpfte, gipfelnd im Hinweis auf «seine traurige Legende, die er so tragisch zu schildern wusste» – «die Eltern von den Nazis getötet, heimatlos, ein großer, unverstandener Dichter».

Celans mittlerweile glänzender Ruf als Lyriker stand mit einem Mal in Frage. Zwar fand er die besten Fürsprecher, von Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz und Peter Szondi (der brillante junge Literaturwissenschaftler publizierte in der «Neuen Zürcher Zeitung» eine philologische Widerlegung der Plagiatsvorwürfe) bis hin zu Rolf Schroers, Walter Jens und Hans Magnus Enzensberger. Ein auf Anregung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erstelltes Gutachten kam zu dem Befund, dass man «die Vorwürfe Frau Golls entschieden zurückweisen» müsse. Am Ende widerrief sogar Rainer K. Abel, der die Plagiatsthese in mehrere Feuilletons lanciert hatte, und entschuldigte sich bei Celan. Doch der angerichtete Schaden war nicht wiedergutzumachen, auch durch den Büchnerpreis nicht, den Celan, nach mehrfachen Erwägungen ihn abzulehnen, im Ok­tober 1960 entgegennahm.

Am 5. Januar 1961 – die Plagiatsanschuldigungen gegen Paul Celan kursierten schon ein Dreivierteljahr öffentlich – bat Peter Szondi den Feuilletonchef der «Süddeutschen Zeitung», Joachim Kaiser, um den Abdruck einer neuerlichen Stellungnahme zugunsten des Freundes. Er könne «es leider nicht ohne Pathos sagen», so schrieb er, es gehe darum, «einen Menschen zu retten». Szondi übertrieb  nicht. Die Frage war nicht, ob ein Autor von einem anderen ein paar Metaphern übernommen habe oder nicht. Es ging um die ganze Existenz eines jüdischen Dichters deutscher Sprache, der, von maßgeblichen Literaturkritikern ohnehin schon zum «Fremdling» erklärt, sich seines höchs­ten Individuellen, seines Autor-Ichs, beraubt fühlte und dies zugleich als Angriff auf sein Judentum verstand.

Celan entfremdete sich zwischen 1960 und 1962 der Mehrzahl seiner Freunde und zog sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück, die ihn, ironischerweise zur gleichen Zeit, mehr und mehr als bedeutenden Lyriker ehrte. Vor allem aber: Seine Psyche hielt dieser tiefsten Verletzung seiner Künstler-Identität nicht stand, er erkrankte schwer und verbrachte ab 1962 mehr als anderthalb Jahre in Heilanstalten. Die «Wahnspur» durchzieht nun auch seine immer schwerer zu enträtselnden Gedichte. Am Ende dessen, was der Autor als «Auslöschung» auf Raten erlebte, steht der Selbstmord an einem späten Apriltag des Jahres 1970.


Geistiger Diebstahl lag nicht vor

Vor dem Hintergrund eines anderen berühmten Falls wird die «Infamie» deutlich, als die Celan die Plagiatsanschuldigung erlebte: Es ist die Plagiatsaffäre um Bertolt Brecht aus dem Jahr 1929, in der dieser zugeben musste, 25 Verse wörtlich aus K. L. Ammers Übersetzungen von Balladen Fran­çois Villons in seine nun schon weltberühmte «Dreigroschenoper» übernommen zu haben. Der Marxist Brecht entschuldigte das frech und souverän mit seiner «grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums». Wie anders Paul Celans Situation und Reaktion: Erstens hatte er keine Zeile und kein Wort von Yvan Goll «übernommen» – geistiger Diebstahl lag also nicht vor. Und zweitens stand ihm die lächelnde Gelassenheit eines Brecht nicht zu Gebote, zu der ihm manche seiner Freunde wie Günter Grass rieten.

Celan im Paris der 50er und 60er Jahre, der einsame Überlebende der Shoah, konfrontiert mit einer Bundesrepublik, die sich in vielem mit der Nazivergangenheit des Landes arrangiert hatte, in der Mitläufer und sogar Mittäter in führenden Positionen agierten und in der sich gerade 1959/60 Hakenkreuz-Schmierereien an Synagogen häuften: Wie hätte er souverän und gelassen sein können? Wer wollte es als wahnhaft ansehen, wenn der jüdische Dichter den Plagiatsvorwurf von Claire Goll und ihren Helfershelfern in dieser Situation, mit seiner Biographie als Vernichtung seiner Autorschaft und damit als nachholende Einbeziehung des Überlebenden in den Genozid – der Rufmord als Mord – erlebte?
Man sieht, hier geht es nicht um die Empfindlichkeiten eines egozentrischen Autors. Wenn Eckart Kleßmann, damals für das Feuilleton von «Christ und Welt» verantwortlich, das sich neben dem der «Welt» als erstes für die Plagiatsvorwürfe zur Verfügung gestellt hatte, im Juni 1961 – Celan war mittlerweile «rehabilitiert» – dem allzu «emsigen Literaturbetrieb» die Mitschuld an der «peinlichen Affäre» gab, dann war das nur die halbe Wahrheit. Die Affäre ist ein zentrales Stück deutscher Nachkriegs-Literaturgeschichte, insofern sie einige ihrer wesentlichen Elemen­te grell ausleuchtet: das Fortwirken von Litera­turkritikern mit NS-Vergangenheit wie H. E. Holthusen oder Curt Hohoff, von Universitätsprofessoren gleicher Provenienz wie Fritz Martini oder Clemens Heselhaus – wie auch die anhaltende Dominanz von weltanschaulichen und ästhetischen Maßstäben aus der Literatur der sogenannten Inneren Emigration. Zugegeben, einige dieser Leute waren in den Nachkriegsjahren mit erkennbaren Konsequenzen in sich gegangen. Doch entscheidend war das geistige Klima der kulturellen Öffentlichkeit, das man zwar nicht nazistischer Sympathien oder offen antisemitischer Ressentiments bezichtigen kann, das sich aber weithin durch Ignoranz und Bewusst­losigkeit auszeichnete. Umgekehrt ehrt es die Feuilletons einiger Zeitungen wie der «Frankfurter Allgemeinen», dass sie sich an der Kampagne gegen Celan nicht beteiligten.

Dieses wichtige Kapitel der Lebens- und Werkgeschichte Paul Celans zugänglich gemacht zu haben, ist das große Verdienst der Herausgeberin des Bandes «Paul Celan – Die Goll-Affäre». Wenn es einen Preis für die bedeutendste philologische Leistung dieses Jahres gäbe, ich würde ihn ohne Zögern Barbara Wiedemann zuerkennen. Man mag ihr im Einzelnen widersprechen: Hat Claire Goll an den Plagiatsvorwurf gegen Celan selbst tatsächlich nie geglaubt? Ist Immanuel Weißglas’ motivähnliches Gedicht «Er» wirk­lich nach der «Todesfuge» entstanden? Steht hinter «R. C. Phelan» (Celan las den Autornamen der Erzählung «Gibt es mich überhaupt?» im «Monat» vom Dezember 1960 als «Erz-Felon», «Erz-Betrüger») ein Mensch dieses Namens aus Fleisch und Blut?


Er war kein Meisterschüler

Was zählt, ist etwas anderes: der stupende Fleiß, die skrupulöse Gründlichkeit und Gelehrtheit, die Souveränität in der übersichtlichen Darbietung und kriminalistisch genauen Kommentierung der Dokumente und im stets klugen, abwägenden Urteil. Wiedemann hat ihre Dokumentation sehr bewusst «Paul Celan – Die Goll-Affäre» und nicht etwa «Die Plagiatsaffäre» genannt, um von vornherein ihr Hauptinteresse wie die Verantwortlichkeiten klarzustellen. Es geht um Paul Celan, seine Person und sein Werk, aber die Affäre ist nicht die seine und auch keine um Plagiate seinerseits, weil es keine gab. Alleinige Urheberin der Affäre war niemand anderes als Claire Goll, die Witwe Yvan Golls, die man nach der Lektüre dieses Bandes mehr denn je als Verkörperung des unseligen Stereotyps der rachsüchtigen Künstlerwitwe sehen wird.

Barbara Wiedemanns Buch dokumen­tiert diese Vorgänge von der Begegnung zwischen Yvan Goll und Celan, über den brisan­ten Höhepunkt des Jahres 1960 bis zu Celans Tod 1970 in ihrer ganzen Kompliziertheit, ohne dass je der rote Faden verloren ginge. Dabei handelt es sich, abgesehen von der Pressekampagne von 1960, überwiegend um nie zuvor veröffentlichte, hochbrisante Texte:
Celans Goll-Übersetzungen aus den frühen Jahren, den Briefwechsel zwischen ihm und Claire Goll aus den Jahren 1950–52, Entwürfe und Notizen zu den Plagiatsvorwürfen von Celan selbst (der sich nie öffentlich zur Wehr setzte, wenngleich er es mehrfach erwog), Briefe von und an Claire Goll, von und an Paul Celan, von und an Richard Exner (von dem jungen Germanistikstudenten, der Celan in einem Aufsatz einen «Meisterschüler» Yvan Golls nannte, nahm die Witwe die Plagiatsvermutung zuerst auf).

Zu den Briefpartnern gehören Theodor W. Adorno, Walter Jens, Karl Krolow, Siegfried Lenz und viele andere. Selbst Jean-Paul Sartre hatte Celan um Unterstützung bitten wollen, sein Schreiben vom Januar 1962 aber nie abgeschickt. Auch die Nachwirkungen und Folgen der Affäre über Celans Tod hinaus sind erfasst, bis in populäre Literaturgeschichten hinein, die noch immer Paul Celan als «abhängig» vom Surrealismus Gollscher Prägung sehen. Und die weiter virulenten Probleme bei der Edition von Yvan Golls Gedichten aus dem Nachlass («Traumkraut» vor allem) werden erkennbar, dem seine Witwe durch ihre willkürlichen Vordatierungen und Manipulationen an den Texten selbst einen Bärendienst erwiesen hat, wodurch wohl für alle Zeit viele Texte dieses großartigen Lyrikers ihrer Authentizität beraubt sind.

Im Februar 1962 zog Celan in einem Brief (der in der vorliegenden Dokumentation rätselhafterweise fehlt) an den Bukarester Freund und Mentor Alfred Margul-Sperber Bilanz: «Nachdem ich als Person, also als Subjekt ‹aufgehoben› wurde, darf ich, zum Objekt pervertiert, als ‹Thema› weiterleben: als ‹herkunftsloser› Steppenwolf zumeist, mit weithin erkennbaren jüdischen Zügen. Was von mir kommt, gelangt zur Redistribution – jüngst auch mein Judentum. ... Sie erinnern sich an Will Vesper: – die ano­nyme Lorelei. Ich bin ebenfalls – wörtlich, lieber Alfred Margul-Sperber! – der, den es nicht gibt.» Es sind vor allem die Gedichte des Bandes «Die Niemandsrose» (1963), die, angefangen beim Titel, diese traumatische Erfahrung einer existenziellen Beraubung in sich tragen. Eines von ihnen, das beginnt «Einem, der vor der Tür stand», hat der Göttinger Emeritus Albrecht Schöne einer luziden Exegese unterzogen – wobei der Titel seiner bis auf Opitz und Scaliger zurückgehenden Abhandlung «Dichtung als verborgene Theologie» beim ungläubigen Celan nur im Sinne von «diffamierender Parodie und Blasphemie», von «Lästerung» und «Frevel» verstanden werden kann. Schöne zeigt, gegen alle früheren, einigermaßen ratlosen Interpreten, dass das Gedicht als eine verzweifelte Reaktion auf bestimmte Aspekte der Plagiatsvorwürfe gelesen werden kann, vielleicht sogar muss.

Das Ich dieses Gedichts erinnert sich: «Einem, der vor der Tür stand, eines / Abends: / ihm / tat ich mein Wort auf». Das Ich sieht im Weiteren diesen Einen zum «Kielkropf ... trotten», zu einem vom Satan untergeschobenen Wechselbalg (wie das «Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens» einen belehrt). Dem folgt die inständige Bitte des Ich an den «Rabbi Löw» (den Schöpfer des Golem), diesem Einen «das Wort zu beschneiden», man kann lesen: das Dichterwort in diesem Mund, bei diesem falschen Umgang nicht weiter wirken zu lassen.

Im ersten Entwurf des Gedichts vom 20. Mai 1961 steht eine Kopfzeile, die später getilgt wird. Sie lautet: «QUE SONT MES AMIS DEVENUS?» – ein Vers aus einem Klagelied des 13. Jahrhunderts und zugleich ein Chanson aus einem der Kellerlokale am Ufer der Seine in den 60er Jahren. Schöne erkennt hierin den Schlüssel zum Verständnis des Gedichts. Einer der «verlorenen Freunde» des Dichters ist «zum Kielkropf» getrottet, lies: hat sich mit Kritikern und Germanisten mit NS-Vergangenheit gemein gemacht, indem er ihnen das ihm anvertraute authentische Dichterwort ausgeliefert hat. Hernach wurde, durch das Weglassen der Kopfzeile, «die biographische Spur gelöscht, wurden die Verse zugleich ausgeweitet und abgedunkelt», so stellt Schöne treffend fest.


Die Frage der «Daten»

Woher aber weiß Schöne das? Woher können Celan-Leser das wissen? Nun, sie müssen, wie Schöne das getan hat, über die fünfbändige Gesamtausgabe von 1983 hinaus eine der beiden großen Celan-Ausgaben zu Rate ziehen, die außer der autorisierten Endfassung der Gedichte auch deren Vorstufen zugänglich machen. Das ist zum einen die Historisch-Kritische Ausgabe (Bonner Ausgabe), von der bisher vier Doppelbände des Spätwerks vorliegen. Ihre Bände erscheinen langsam (der erste vor zehn, der bislang letzte vor drei Jahren), und die Textgenese ist für Laien durch die Trennung in Text- und Apparatbände schwierig nachzuvollziehen. Zudem fehlt in dieser Ausgabe der Band «Die Niemandsrose» noch.

Zum Glück gibt es noch eine zweite, so originelle wie zuverlässige Celan-Edition, nämlich die Tübinger Ausgabe, von der seit 1996 fünf Bände (auf den Vorarbeiten der Bonner Kollegen im Nachlass aufbauend) he­r­ausgebracht wurden, auch «Die Niemands­rose». Ihr haben sich im Jahr 2000 die Bände «Atemwende» und jetzt «Fadensonnen» zugesellt. Hier kann man auf zwei Buchseiten nebeneinander bis zu fünf Fassungen eines Gedichts lesen und so nachvollziehen, wie sich aus einem Keim manchmal nur weniger Verse, der häufig Spuren einer persönlichen Erfahrung durchscheinen lässt, die endgültige Gedichtfassung herauskristallisiert.

Freilich sind zu den späteren Gedicht­bänden deutlich weniger Textzeugen erhalten, so dass gerade die Bände «Atemwende» und «Fadensonnen» immer häufiger leere Spalten oder gar Seiten enthalten. Und doch sind auch die neuen Bände spannend genug: wenn z. B. der «Moorsoldat» («von Massada»), den man aus dem Israel-Gedicht «Denk dir» kennt, nun auch in Entwürfen zu zwei anderen Gedichten aus «Fadensonnen» auftaucht. Für die bewusst sparsamen Lesehilfen und Erläuterungen der Tübinger Ausgabe ist man immer wieder dankbar. Auch wenn ein Gedicht Celans als poetisches Gebilde unmittelbar fasziniert: Um ihm gerecht zu werden, es zu verstehen, muss der Leser «seiner Daten eingedenk» sein, die ihm der Autor, präzise und kryptisch zugleich, eingeschrieben hat.

Die «Daten» spielen auch in Jean Bollacks Summe seiner über Jahrzehnte gehenden Bemühungen um das Werk Celans eine entscheidende Rolle. Die nationalsozialistische Gewalt, der Massenmord an den Juden: Das ist für Bollack «der einzige, eigentliche Bezugspunkt» dieser Dichtung, und wer ihn versäumt oder relativiert, verfehlt die Gedichte ums Ganze. Diese These ist nicht neu, aber neu ist die Radikalität, mit der sie vorgetragen wird – deutlich vor allem im entschieden polemischen Gestus, mit dem Bollack anderen Richtungen der Celan-Exegese begegnet, den «christlichen Reconquistadoren» sowieso, aber auch der «jüdischen Vereinnahmung» («keine Theologie, auch keine jüdische») und der zum Prinzip erhobenen «doktrinalen Mehrdeutigkeit» aus der Feder der Dekonstruktivisten, denen er «kulturelles Desinteresse», pure Beliebigkeit attes­tiert (Derrida wird interessanterweise ausgenommen).

Differenzierter steht Bollack zur Hermeneutik. Er kritisiert sie scharf, wo sie, wie in Gadamers Interpretation von Celans Zyk­lus «Atemkristall», sich bewusst aller historischen, biographischen oder auch lexikalischen Informationen begibt, indem sie vom «Postulat des gemeinsam bewohnten Hauses» ausgeht. Er praktiziert Hermeneutik selbst, indem er gerade die Fremdheit der Texte Celans und der in sie eingegangenen Erfahrungen herauspräpariert. So entzieht er den Texten den ihnen immer wieder so gern «aufgebürdeten Sinn», ohne doch den Celan ein Leben lang leitenden «Sinn», die «beharr­liche Parteinahme für das Individuum», im Geringsten zu relativieren. Ein autoritatives, ein strenges, ein herausforderndes Buch, allem Appeasement abhold. Aber was sonst wäre Paul Celan angemessen? ||



Literatur von und über Paul Celan

Paul Celan
Atemwende. Tübinger Ausgabe
Hg. von Jürgen Wertheimer. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000. 217 S., 68 DM

Fadensonnen. Tübinger Ausgabe
Hg. von Jürgen Wertheimer. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000. 180 S., 60 DM

Gesammelte Werke in sieben Bänden
Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2000. 148 DM

Barbara Wiedemann (Hg.)
Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ‹Infamie›
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000. 926 S.,
160 DM (auch als Taschenbuch, 98 DM)

Albrecht Schöne
Dichtung als verborgene Theologie
Wallstein, Göttingen 2000. 45 S., 28 DM

Jean Bollack
Paul Celan. Poetik der Fremdheit
Zsolnay, Wien 2000. 376 S., 58 DM

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