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AfD-Russlandpolitik - Shitstorm gegen Parteichef Lucke

Kolumne: Zwischen den Zeilen. Die AfD-Europa-Abgeordneten um Parteichef Bernd Lucke haben für eine russlandkritische Resolution gestimmt. An der Basis hagelt es Protest. Der Grund: Die Wahrheit ist in Gefahr

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Die Demokratie hat ein Problem. Udo S. ist sauer. „Was ist aus Mut zur Wahrheit geworden?“, schimpft er auf der Facebookseite der AfD. Die Folge: Udo fliegen die Likes nur so um die Ohren.

Udo S. ist nicht der einzige, der wütet. Mit ihm ein ganzer Schwarm. Gegen den Parteichef. Gegen Bernd Lucke.

AfD-Streit über Sanktionspolitik
 

Der hat gerade (und mit ihm die AfD-Abgeordneten Hans-Olaf Henkel, Bernd Kölmel und Joachim Starbatty) für eine russlandkritische Resolution im Europaparlament gestimmt, obwohl die AfD sich in ihrem Erfurter Parteitagsbeschluss klar gegen Sanktionen positioniert. Parteivize Alexander Gauland überlegt daraufhin, die Spitzenkandidatur für die Landtagswahl in Brandenburg niederzulegen und warnt vor einer Spaltung der AfD.

Bernd Lucke rudert zurück. Und wieder vor – versucht einzufangen, was nicht einzufangen ist. In einer Stellungnahme erklärt er, dass er natürlich uneingeschränkt hinter Parteibeschlüssen stehe und Wirtschaftssanktionen gegen Russland auch in der jetzigen Lage für kontraproduktiv und konflikteskalierend halte.

Sie ahnen, was kommt. Ein Aber. Lucke schlägt einen lupenreinen Altparteien-Haken. Gleichwohl, so Lucke weiter, müssen die Staaten der EU angemessen reagieren können, wenn der Konflikt etwa durch eine militärische Intervention Russlands in der Ostukraine zu einem offenen Krieg würde. Für diesen Fall halte er es für richtig, Sanktionen vorzubereiten und zu verhängen.

Wir fassen zusammen: Er ist also im Grunde gegen Sanktionen, schließt sie aber im konkreten Fall nicht aus.

Sich innerhalb eines Gedankengangs derart zu widersprechen, war bisher dem Kaiser Franz vorbehalten. Vielleicht, aber nur vielleicht, bedient sich der eher selten dialektisch in Erscheinung tretende Lucke hier absichtlich einer uralten philosophischen Strategie. Vielleicht ist Lucke ein ausgefuchster Aporetiker. Quasi in der Tradition des guten alten Sokrates stehend, der seine Gesprächspartner mit Hilfe der Mäeutik in die Aporie führte, um sie auf den Weg der Wahrheit zu leiten. Und Wahrheit ist ja schließlich Kern der AfD-Philosophie.

Diesen Kniff hätten ihm die blauen Brüder der AfD wohl noch durchgehen lassen, aber was dann folgt, schlägt dem Storch die Füße platt. Lucke schließt mit einer Art Verständnisappell für das dann doch irgendwie komplexe und gar nicht mehr so kartellartig wuchernde Bürokratenmonster namens EU. „Eine Resolution eines Parlaments, das über 700 Abgeordnete aus 28 Staaten repräsentiert und aus den verschiedensten Parteien zusammengesetzt ist, wird man nie maßgeschneidert nach den eigenen politischen Vorstellungen bekommen. Man kann natürlich gegen alles stimmen, was dem eigenen Denken nicht völlig entspricht. Man kann aber auch abwägen, wie viel Positives und wie viele Unzulänglichkeiten in einer Resolution enthalten sind.“

Klingt wie eine Liebeserklärung, eine offene Wertschätzung für die Mühen und Mühlen, die ein demokratischer Prozesse in supranationalen Mehrebenensystemen nun einmal durchläuft. Die Botschaft des Eurotikers aber schlägt fehl. Die Stimmung kippt. Und mit ihr die Orthografie.

Shitstorm gegen Lucke
 

Man sei Washington und Brüssel auf dem Leim gegangen, ruft der AfD-Facebookfan. Von „Beschiss“, vom „Willkommen im Establishment“ ist die Rede. „Prof. Dr. Verräter“ wird Lucke genannt. Die AfD sei eine „Truppe von Speichelleckern“, im „Altparteiensystem angekommen“. Heinz-Jürgen wittert gar Verschwörung: „Ach haben die Bilderberger schon vorgesprochen Herr Lucke?“ Ein anderer wird brachial: „Jetzt seid ihr auch schon verlogen. klasse Entwicklung, aber den arschtritt bekommt ihr zurück!“ Und Waldemar M. notiert fassungslos:  „OMG, was für ein Geschwurbel. Fakt ist, dass das Brüsseler-EU-Monster, angestachelt durch die USA, seine klebrig, gierigen Finger nach der Ukraine ausgestreckt hat“

Alle diese Empörten eint ein schrecklicher Verdacht: Die Gehirnwäsche der EU-Blockparteien hat dem obersten Gehirnwäschealtparteiengegner Bernd Lucke den gesunden Menschenverstand verhagelt. Gehirnschneckenalarm! EU-normiert natürlich.

Die AfD-Anhänger sind schier fassungslos, ob der EU-Konformität ihres Parteichefs. Ein User klärt auf: „Warum wohl bekam die AfD diese Aufmerksamkeit von den Mainstream-/Leitmedien? Weil sie von Anfang an ein Teil dieser Theateraufführung unseres Systems ist !!! Wann merken es die letzten hier? Man hat es sich in Brüssel bequem gemacht,...Lucke hat sich kaufen lassen.“

Die AfD eine Erfindung der Alt-Blockparteien, um EU-Querulanten abzufischen? Angetreten, um das System zu stabilisieren?

Es sind die Geister, die Lucke rief, die jetzt ohne ihn weiterspuken. Die Kommentarspaltenwirklichkeit im AfD-Milieu richtet sich nun in all ihrer Härte gegen den eigenen Schoß.

Mit Wut zur Wahrheit
 

Bleibt eine inhaltliche Frage: Was zur Hölle ist mit Lucke los?

Kaum in Brüssel angekommen, macht er Realpolitik. Wie Lucke wurden schon ganz andere von Europa demokratisiert. Das EU-Phänomen: Sie zogen grantig aus und kehrten als blühende Europäer zurück. Im besten Alter nach Europa verschifft. Das mussten die heutigen Berufseuropäer wie Edmund Stoiber und Günter Oettinger am eigenen Leib erfahren. So wild, wie der Student im Auslandssemester Körperflüssigkeiten internationalisiert, so kosmopolitisch färbt der Blick über die nationalen Grenzen hinaus. Insofern ist das, was Lucke und Co. gerade durchmachen, eine Art Erasmus-Effekt für Spätsemester.  

Für solche Entwicklungen hat der Basis-Afdler natürlich wenig Verständnis und will jetzt mit Wut zur Wahrheit. Die Wahrheitspartei hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Es kommt, wie es kommen musste: Denn Wahrheit heißt hier nicht, Recht haben, sondern Recht behalten. Da die Kategorie Wahrheit wohl sonst nur in Religionen oder anderen Ideologien zu finden ist, hat es der Wahrheitsverkünder naturgemäß schwer. Wer Wahrheiten propagiert, meint in Wahrheit seine Wahrheit, will seine Sicht mit Absolutheitsanspruch auf die Welt übertragen. In der Politik aber kann es nur relative Wahrheiten geben, Argumente, die sich eine Mehrheit suchen.

Es liegt also in der Natur der Sache, dass Bernd Lucke das Wahrheitspostulat jetzt auf die Füße fällt.

Und Udo S. dann wahrheitsgemäß schreit: ,,Mut zur Wahrheit, Herr Lucke!“

Was immer das sein mag.

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