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Joachim Bessing - „Jeder braucht einen Menschen, der ihn ruiniert“

In seinem Roman „Untitled“ schreibt Joachim Bessing über eine digitale Liebe. In Berlin sprach er mit Cicero-„Salon“-Chef Alexander Kissler über Afrika und die Liebe im Zeitalter der Smartphones, über einen weinenden Helden und warum Sex überschätzt wird

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Der Schriftsteller Joachim Bessing war Ende der 1990er Jahre Teil des „popkulturellen Quintetts“ und gab dessen Manifest „Tristesse Royal“ heraus. Es folgten journalistische Jahre, essayistische Jahre, er schrieb Theaterstücke und ein Plädoyer für die Familie. Mittlerweile lebt er in Äthiopien, von wo er mit seinem neuen Roman „Untitled“ für einige Tage nach Berlin zurückkehrte.

 

[[{"fid":"53285","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":145,"style":"width: 120px; height: 182px; margin: 10px 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Herr Bessing, Sie haben einen Roman geschrieben über eine Liebe, die sich vor allem am Mobiltelephon, mit E-Mail und mit Instagram ereignet. Und nun sehe ich: Sie besitzen gar kein Handy.
Als ich nach Äthiopien zog, brachte ich drei iPhones mit. Sie sind mir binnen kurzer Zeit gestohlen worden. In Afrika ist es nicht so leicht, ein neues zu bekommen.

Wie lange leben Sie schon in Äthiopien?
Seit neun Monaten.

Also noch gar nicht so lange.
Ihnen mögen neun Monate nicht so lange vorkommen. Für mich ist es eine unendlich lange Zeit. In Afrika vergeht die Zeit vollkommen anders. Der Tag ist schnell vorüber, die Woche dauert ewig. Wenn man einen Äthiopier nach diesem Missverhältnis fragt, sagt er: Die Zeit kommt auf uns zu; bei euch vergeht sie. Die Äthiopier kennen keine Vergangenheit. Es ist eine mündliche Kultur, deshalb bin ich dorthin gezogen. Ich wollte in einem Land leben ohne Bücher, ohne Archiv.

Was gefällt ihnen denn nicht am westlichen Zeitbegriff?
Gar nichts, aber ich denke, wir sind hier zu sehr fixiert auf Geschichtlichkeit – ein Wort übrigens, das wie Liebe, wie Zärtlichkeit im Amharischen nicht existiert. In Äthiopien wird alles in Gedichten aufbewahrt und in Gesängen.

Sie leben also in Äthiopien, weil Ihnen dort das Schreiben leichter fällt.
Ich bin sehr egoistisch. Seit ich dort bin, habe ich unglaubliche Ideen. Hier, in Deutschland, ist alles sauber, gerade, nirgendwo schaut ein Kabel hervor. In Äthiopien haben 30 Jahre Kommunismus das Land ruiniert. Unter Haile Selassie war es das reichste Land Afrikas, das ist heute definitiv nicht mehr so. Was die Menschen aber haben, sind Geschichten. Und ich höre gerne zu. Schreiben bedeutet ja nur, wie Goethe einmal sagte, „dem flücht‘gen Hauch Gestalt verleih‘n“.

Das große Thema von „Untitled“ ist die Liebe. Die namenlose Hauptfigur verzehrt sich völlig in einer weitgehend virtuellen Beziehung zu ihrer Seelenverwandten namens Julia Speer, die fatalerweise verheiratet ist. Der Liebende durchläuft dabei alle Stationen der Euphorie und der Trostlosigkeit, verliert sein bisheriges Umfeld, seinen Beruf, sein Einkommen. Ist Liebe eine Krankheit?
Liebe kann zur Krankheit werden. Mein Buch ist, vom Cover, das eine befreundete Künstlerin aus einem Holzblock schnitt, bis hin zur letzten Seite, ein Akt der Liebe. Nach meinem Handtaschen-und-Nagellack-Leben als Modejournalist und einem schweren Unfall beschloss ich: Ich möchte nie wieder etwas machen, was mir nichts bedeutet, weil es jederzeit vorbei sein kann.

„Untitled“ ist demnach Ihre Geschichte?
Was ist schon meine Geschichte? Ich erkenne mich in den Geschichten, die andere über mich erzählen, nicht wieder. Eine Figur hingegen kann alles, sie kann fliegen und durch Wände gehen.

Mit „Untitled“ schufen Sie die vermutlich empfindsamste Hauptfigur der jüngeren Literaturgeschichte. Irgendwann besteht deren Leben fast nur noch aus Weinen. Lohnt dieses Opfer der Selbstaufgabe für die Liebe?
Ich wünsche jedem Menschen, dass er eine solche Julia Speer findet – einen Menschen, der ihn komplett ruiniert. Nur ein solcher Ruin sorgt dafür, dass du neu entscheiden kannst, was du wirklich willst. Die meisten Leute wissen das gar nicht. Sie müssen – sagen sie – die Miete zahlen, das Päckchen bezahlen, sie müssen, müssen, müssen. Was man wirklich will, hat aber nichts mit Geld zu tun. Nach dem Verkehrsunfall lag ich mit einem Schädelbruch auf der Straße. Ich weiß nun, wie es sich anfühlt, wenn man tot ist. Mein bisheriges Leben empfand ich als völlig verfehlt.

Seite 2: „Liebe zwingt die Menschen auf die Knie“

Die Hauptfigur, diese Liebe als Person, ist ein sehr schwieriger, ja problematischer Mensch.
Es geht nicht anders. Wenn du keine Probleme hast, kannst du keine Ideen haben. Außerdem reinigt und heilt die Liebe ihn. Zu Beginn arbeitet er in einem Zeitungsverlag und genießt dieses Leben sogar. Dann wird er durch Liebe gebrochen. Am Ende malt er Bilder im Stil des 17. Jahrhunderts – eine romantische Karriere. Ich rate jedem Menschen: Mache aus dem, was du wirklich liebst, ein Kunstwerk. Es zeugt dann von der wahren Liebe.

Die Liebe zu Julia Speer besteht indes nur aus „Küssen, Reden, Briefeschreiben“.
Reicht doch.

Die klassische Frage, wer mit wem schlief, wird demnach überschätzt?
Darauf sind wir gepolt. Ich bedaure das. Tun dürfen, was man fühlt: Das ist doch viel schöner.

Die verschlingende und berührend keusche Liebe zu Julia Speer ist eine Liebe im Medium des Smartphones. Ist diese Kommunikationstechnik nur eine Zutat oder substanziell?
Sie ist entscheidend. Heute kann ich dem geliebten Menschen unmittelbar mitteilen, was ich gerade sehe oder empfinde, oder wie Julia in einer Instagram-Nachricht schreibt: „Ich wollte dir das Licht kommunizieren.“ Einverständnis wird hergestellt. Unser Denken, unser Lieben verändern sich dadurch grundlegend. Die Geräte werden zu Verlängerungen unseres Bewusstseins. Je stärker wir dank ihrer verbunden sind, desto schneller wächst ein gemeinsames Bewusstsein – man mag es Liebe nennen oder Nähe trotz Distanz. Die Frage, die mein Roman stellt, lautet: Warum muss ich mit jemandem kommunizieren, um zu wissen, dass ich ihn liebe? Im folgenden Roman, „Wachs und Gold“, der unter anderem in Afrika spielen wird, erzähle ich, wie ihrer beider Geschichte ausgeht.

Warum ist da überhaupt Liebe?
In dem Roman zitiere ich ein Gedicht von René Char, das Michel Foucault sehr wichtig war. Darin wird der Andere als Lockvogel beschrieben, der dich in ein dunkles Labyrinth führen kann. Die Liebe macht den Anderen zum endlosen Gefäß, in dem ich verloren gehen soll, um zu lernen, was Menschsein bedeutet. Mein Roman ist Warnung und Lockruf zugleich: Unterschätze nie die Nachbarin! Wenn du dich je in sie verlieben solltest, könnte gerade daraus die größte Geschichte deines Lebens werden. Mein Held entdeckt mit dieser Julia eine Welt außerhalb jeglicher Welt. Und das kann jedem von uns jederzeit mit jedem Menschen geschehen.

Liebe ist demnach das beste Mittel, um der Welt abhanden zu kommen.
Das wäre toll. Ich will wissen, was passiert, wenn man jemanden findet, der komplett Ja zu dir sagt und dir so einen Weg heraus aus dieser Welt zeigt.

Und damit heraus auch aus dem Zwang zur Geschichtlichkeit, weg vom Archiv?
Oh nein, es entstünde dann ein neues, ein tolles Archiv, ein Archiv der Liebe. Was kann es Schöneres geben?

Trotz aller Abgründigkeit ist Liebe also eine Himmelsmacht.
Liebe zwingt die Menschen auf die Knie. Sie ist der einzige Gottesbeweis, den ich akzeptieren musste.

Das Interview führte Alexander Kissler.

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