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() Ist soziale Egalität unmöglich?
Freiheit oder Gleichheit

Wenn wir wirklich Freiheit wollen, sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten ein legitimer und notwendiger Preis dafür.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Welt insgesamt reicher, aber während manche Ökonomien einen rasanten Fortschritt zu verzeichnen hatten, fielen andere noch weiter zurück. Diese Zunahme des Gesamtvermögens hat allerdings nicht zur Beseitigung, ja nicht einmal zur Verringerung der Armut geführt. Das gilt größtenteils auch für die Verhältnisse innerhalb von Ländern. Fast überall entstand durch die Globalisierung sowohl eine neue Schicht von Multimillionären als auch eine Unterschicht, der Menschen angehören, die nicht nur im statistischen Sinne arm sind, weil sie weniger als die Hälfte des landesüblichen Durchschnittslohnes verdienen, sondern weil sie von Möglichkeiten ausgeschlossen bleiben, die eigentlich allen offen stehen sollten. Von der Dynamik der Globalisierung haben zwar viele profitiert, aber die Ungleichheit ist dadurch auch größer geworden. Ist das jetzt unbedingt schlecht? Viele glauben das jedenfalls. Tatsächlich zeigen ganze Länder wesensbedingt egalitäre Züge. Dort hat man etwas gegen Manager, die auch bei Erfolglosigkeit hohe Summen mit nach Hause nehmen, und man kann es nicht mit ansehen, dass mitten in der Gesellschaft arme und ausgegrenzte Menschen leben. Aber obwohl es sich in der sozialdemokratischen Welt von Skandinavien, Deutschland und anderen europäischen Ländern angenehm lebt, haben sich viele dieser Länder die Egalität auf Kosten zukünftiger Generationen erkauft. Außerdem werden in einem egalitären Klima der Innovationsgeist und der Sinn für dynamische Entwicklung nicht gefördert. Kreative Menschen neigen dazu, Gesellschaften zu verlassen, wo es einen starken Druck gibt, nicht aufzufallen. Ungleichheit ist mit Freiheit nicht nur vereinbar, sondern oftmals auch ein Anreiz für und ein Ergebnis der Freiheit. Stehen wir damit also vor der Wahl Freiheit oder Gleichheit? So einfach ist es nun doch nicht. In einer freien Gesellschaft werden wirtschaftlicher und allgemeiner Ungleichheit zwei Grenzen gesetzt. Beide werfen schwierige praktische Fragen auf, obwohl sie im Prinzip klar sind. Ungleichheit ist mit Freiheit dann nicht vereinbar, wenn sie die Chancen der Menschen auf Teilnahme an der politischen Gemeinschaft, am Markt oder an der Zivilgesellschaft einschränkt. Am unteren Ende der sozialen Leiter stellt sich dadurch die alte leidige Frage der Chancengleichheit. Fest steht, dass jeder Mensch Zugang zu Wahlen und politischen Parteien, zu Bildung, dem Arbeitsmarkt und den Vereinigungen der Zivilgesellschaft haben muss. Kurzum, Staatsbürgerschaft im weitesten Sinn des Wortes verlangt nach Grundrechten und der Möglichkeit ihrer Umsetzung. Außerdem setzt sie einen wirtschaftlichen Grundstatus voraus. Eine schwierige Frage dabei ist, wo genau die Grenze zu jener Grundsicherung zu ziehen ist, die allen Staatsbürgern zusteht. In den meisten Ländern sollte sie wahrscheinlich höher angesetzt werden, als dies bis jetzt der Fall ist. Ein weiteres kniffeliges Problem ist, wie dieser Grundstatus garantiert werden soll. Es hat überall eine lebhafte Debatte eingesetzt, ob das über individuelle Einkommenszuschläge oder allgemeine öffentliche Dienstleistungen geschehen soll. Man könnte mit verschiedenen, auf die Gegebenheiten der jeweiligen Länder abgestimmten Problemlösungen darauf reagieren, obwohl Steuergutschriften und ähnliche Einkommenszuschläge mit freien Gesellschaften besser vereinbar sind. Am oberen Ende der sozialen und ökonomischen Leiter ergibt sich eine andere Problematik. Viele Menschen stoßen sich an Managern, die von ihren Unternehmen hunderte Millionen Dollar an Gehalt, Prämien und Aktienoptionen kassieren. Tatsächlich ist es eine legitime Frage, ob das Verhalten der Kapitalisten von heute die generelle Akzeptanz des Kapitalismus fördert. Allerdings wird individueller Reichtum erst dann zu einem Problem, wenn er dazu benutzt werden kann, die Teilnahmechancen der anderen zu beschränken. Wenn Reichtum zu unkontrollierter Macht wird, muss etwas unternommen werden, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Während allerdings eine freie Gesellschaft die Grenzen der Ungleichheit anerkennt, nimmt sie auch zur Kenntnis, dass Ungleichheit existiert, denn sie gibt vielen Menschen auch Hoffnung, indem sie gezeigt bekommen, was man mit Können und Glück – oder vielleicht auch nur mit Glück – erreichen kann. Die Ungleichheit bringt Farbe und Vielfalt in eine Gesellschaft. Sie ist ein Indikator für Lebhaftigkeit, Flexibilität und Innovationsgeist eines Landes. Daher ist sie nicht grundsätzlich schlecht, selbst wenn ihre Auswüchse im Namen der Staatsbürgerschaft für alle gekappt werden müssen. Soziale Ausgrenzung und personalisierte Macht aufgrund von Reichtum sind in jedem Fall inakzeptabel. Wenn wir aber Freiheit möchten, dann sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten ein legitimer und notwendiger Preis, den wir dafür zu zahlen haben. Lord Ralf Dahrendorf, Philosoph und Soziologe, ist seit 1997 Direktor der Bankgesellschaft in London

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