Ein Demonstrant hält die polnische und die EU-Flagge. Bild: picture alliance

Wir sind Europa! - Eine Streitschrift rechnet mit den Nationalisten ab

Kolumne: Leicht gesagt. Immer mehr nationalistische Bewegungen streben in Europa an die Macht. Die schweigende Mehrheit aber hält die EU eigentlich für eine gute Sache. Ein Buch ruft jetzt zum Aufstand gegen den antieuropäischen Populismus auf

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Wulf Schmiese leitet das „heute journal“ im ZDF. Zuvor hat er als Hauptstadtkorrespondent, jahrelang auch für die FAZ, über Parteien, Präsidenten, Kanzler und Minister berichtet.

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Es sagt sich derzeit so leicht, dass Europa dem Ende nah sei: Die Außengrenze bekommt es ohne die Türkei nicht dicht. Der gemeinsamen Wirtschaft droht Zerfall, wenn der Brexit kommt. Der Euroraum scheint immer wieder dem Kollaps nah wegen Schuldenlöchern südlicher Mitgliedsländer.

Diese Ermattung führt zu einer weiteren Gefahr: „Wie eine ansteckende Krankheit befällt völkischer Nationalismus ein EU-Land nach dem anderen. Die Abwehrkräfte sind überraschend schwach.“ So die Diagnose, mit der sich die Autorin Evelyn Roll nicht abfinden will. Sie fordert: „Steht auf, wenn ihr Europäer seid!“ Ihre Streitschrift gegen den Nationalismus heißt: „Wir sind Europa!“

Rolls Rezept ist aber erst einmal eine genaue Betrachtung der vielen „kleinen Trumps“, die dem geeinigten Europa zu schaffen machen: „Mit populistischen Dummheiten, nationalistischen Abschottungsphantasien, Verschwörungstheorien und Scheinlösungen sammeln sie Stimmen der Verunsicherten und Überforderten, der Abgehängten, Entkoppelten, der Denkfaulen und Verbitterten.“

Die Flüchtlingskrise spielte den Nationalisten in die Hände
 

Ausgesprochene Anti-Europäer scheinen auf dem Vormarsch vom Front National über FPÖ bis AfD. Marine Le Pen hat als Ziel ausgegeben: „Ich will Europa zerstören!“ Führende AfD-Politiker suchen die Nähe zu ihr. In vielen Ländern Osteuropas regieren bereits EU-Skeptiker. Schon bei der Europawahl 2014 wurden nationalistische und euroskeptische Kräfte drittstärkste Kraft: „156 von 751 Abgeordneten wollen das Parlament, in das sie sich haben wählen lassen, in seinen Rechten beschneiden oder am liebsten ganz abschaffen.“

Die Flüchtlingskrise wird Nationalisten weiter gestärkt haben. „Man kann diese Krise ein Geschenk für uns nennen“, jubelte AfD-Vizechef Alexander Gauland bereits im September. „Sie war sehr hilfreich.“ Am Ende schien das Ende des Schengen-Raums bereits gekommen – die 28 EU-Mitglieder konnten sich nicht auf einen Minimalkonsens einigen, so Roll. „Und das Auffälligste: das Achselzucken der meisten verantwortlichen Politiker.“

Doch die EU zerbrach nicht – trotz massivem Streit. Roll hält das für die Leistung der deutschen Bundeskanzlerin. „Die entschiedene Unbeirrbarkeit Angela Merkels sorgte schließlich, perverserweise unterstützt von den Terroranschlägen auf Brüssel, in fast allen europäischen Hauptstädten doch noch einmal für einen Moment des Innehaltens und half zu der Erkenntnis: Hoppla. Es geht ja überhaupt nicht allein.“

Halbhegemoniale Stellung Deutschlands in der EU
 

Tatsächlich wurde dann eine europäische Lösung gefunden, an der allerdings die Türkei mitbeteiligt ist. Insofern ist noch nichts wirklich gelöst. Die Frage ist auch, inwieweit Merkel durch deutsche Alleingänge nicht das Auseinanderdriften der EU mit beschleunigt hat. An anderer Stelle sieht die Autorin die deutsche Rolle durchaus kritisch. Deutschland sei in eine „halbhegemoniale Stellung hineingerutscht, hat den anderen seinen Willen aufgezwungen und sie vor vollendete Tatsachen gestellt, beim Atomausstieg, mit der Nord Stream Pipeline und in der Flüchtlingskrise. Wahrscheinlich hat die deutsche Regierung die über das Mittelmeer Geflüchteten zu lange wie selbstverständlich als Problem der Griechen und Italiener betrachtet. Solidarität erst wieder zu entdecken, wenn man sie selbst wieder braucht, geht auch nicht.“

Roll treibt es etwas anderes um: Sie bestreitet, dass eine Mehrheit in Europa wirklich das Ende der EU will. Im Gegenteil. Die Mehrheit sei nur müde, abgestumpft ratlos und gelähmt. Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung bestätigt das: „Die Mehrzahl der EU-Bürger unterstützt die Europäische Union und den Euro und ist davon überzeugt, dass die politische und wirtschaftliche Integration gestärkt werden sollte“, heißt es in der Studie.

71 Prozent gaben danach an, in einem möglichen Referendum für die EU-Mitgliedschaft ihres Landes zu stimmen. 63 Prozent der Befragten im Euro-Raum würden auch für den Verbleib ihres Landes im Euro-Raum votieren. Zudem seien 59 Prozent der Europäer davon überzeugt, dass die politische und wirtschaftliche Integration verstärkt werden sollte.

Empörung allein reicht nicht
 

Diese Umfrage ist allerdings aus dem Oktober 2015. Die Mehrheit wird dennoch weiterhin hinter der Idee eines gemeinsamen Europas stehen. All denen will Roll Beine machen. Indem sie beschreibt, was wirklich auf dem Spiel steht: „Was immer gewonnen wurde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Aufklärung, kann in Hochgeschwindigkeit wieder verlorengehen.“

Empörung reiche dagegen nicht, sondern nur Aktion. In Polen zeigen dieser Tage Hunderttausende, dass sie gegen die Selbstentkoppelung ihres Landes von der EU sind. Sie schwenken die EU-Flagge. Darin sieht Roll Ermutigung für andere Staaten mit nationalistischen Regierungen.

Die Pro-Europäer aller Länder sollten sich millionenfach vernetzen und verlinken, Kampagnen starten. Wähler ihren Abgeordneten per Mail drohen: „Ich wähle Sie nicht wieder, wenn Sie nicht bald erkennbar etwas für Europa tun.“ Tatsächlich könne jeder etwas gegen antieuropäischen Populismus tun, zwei Worte reichten. Jeder, der Scheinlösungen posaune, solle gefragt werden: Und dann?

Kritik – ja, aber nicht bis zur Selbstzerfleischung
 

Manches in Rolls Ratgeber für ein selbstbewusstes Europa mag naiver Wunsch sein, verzweifeltes „Man müsste doch nur mal“. Doch der „Und dann?“-Trick ist in jedem Fall ein brauchbarer Rat. Wer auf diese Frage nur noch Luft als Antwort bekommt, erkennt umgehend aufgeblasenes Maulheldentum.

Leider gibt es das umgekehrt auch allzu oft bei den europäischen Eliten. Natürlich müsse über die Missstände in der EU, die Fehler der Währungsunion, das vielbeschriebene Demokratiedefizit gestritten werden. Aber eben niemals bis zur Selbstzerfleischung und zum Verlust gemeinsamer Werte: „Wenn die Reaktion der Angsthasen, Selbstaufgeber und Nichtzuendedenker auf die neue Weltunordnung Nationlismus und Führersehnsucht ist, dann braucht es die Gegenreaktion: Europa. Jetzt! Wir sind die Mehrheit! Wir sind Europa!“

Ein Pamphlet hat Evelyn Roll geschrieben. Eines, das jetzt dringend nötig ist. Mögen es viele Europäer lesen.

 

Evelyn Roll, Wir sind Europa!, erscheint am 13.05.2016 im Ullstein Verlag, 48 Seiten, 7,00 Euro (Hardcover), 6,49 Euro (ePub).

Die Autorin ist Reporterin, Kolumnistin und leitende Redakteurin der Süddeutschen Zeitung in Berlin.

 

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