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Verfassungsgericht - Warum sind die Deutschen ihren Richtern hörig?

Das Bundesverfassungsgericht, am provokativsten mit dem Entscheid über die Drei-Prozent-Hürde, macht Politik im Gewand der Rechtsprechung. Für das deutsche Bürgertum sind die obersten Richter Ersatzautoritäten für eine nie überwundene Obrigkeitsgläubigkeit

Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Andreas Voßkuhle wollte nicht Bundespräsident werden. Ein Angebot Angela Merkels Anfang 2012, seine Kandidatur zu lancieren, lehnte er ab: im Bewusstsein, als Präsident des Bundesverfassungsgerichts weitaus mehr Macht zu haben.
Wie ist diese Absage zu werten? Als Entscheidung für die Justiz, gegen die Politik?

Nein, Andreas Voßkuhle hat sich nicht für das Recht entschieden. Wer das Verfassungsgericht aus Gründen der Macht wählt, der entscheidet sich aus politischen Motiven: für Politik – ich entscheide mich für Karlsruhe, weil dort die Macht hockt.

Dort thront er nun, der machtgetriebene Richter Voßkuhle: auf dem höchsten Stuhl von Deutschlands höchster Instanz.

Was immer draußen im Lande geschieht, die Karlsruher Richter sprechen darüber Recht: vom Reiten im Walde über das Rauchen im Restaurant bis zur „Vorbereitung eines geeigneten sozialen Empfangsraums“ im Strafvollzug. Die roten Roben wissen, was den Deutschen frommt. Am allerbesten aber wissen sie, was der deutschen Politik frommt.

Darf der Bundespräsident in einer Rede etwas gegen rechte „Spinner“ sagen? Den Verfassungshütern obliegt es, über Joachim Gauck zu rechten.

Darf die Europäische Zentralbank unbeschränkt Staatsanleihen kaufen, um den Euroraum gegen Spekulation abzusichern? Nein, findet Karlsruhe, das geht zu weit. Und überweist den Fall gnädig an den Europäischen Gerichtshof. Der möge nun entscheiden, selbstverständlich im Sinne des Bundesverfassungsgerichts.

Darf die Bundesrepublik für die Europawahl eine Drei-Prozent-Hürde errichten? Darf sie nicht. Die Karlsruher haben die Schranke gegen Kleinstparteien niedergerissen, mit der Begründung: Die Parlamentarier in Straßburg wählten ja eh keine Regierung, weshalb die Abwehr von Extremisten nicht vonnöten sei. Will heißen: Das Europaparlament ist eine Schwatzbude.

All diese Beschlüsse, am aktuellsten und deutlichsten der Sperrklausel-Entscheid, machen erkennbar, worauf Karlsruhes Zuständigkeit für alles und jedes hinausläuft: auf politische Entscheidungen im Gewand höchstrichterlicher Urteile, auf Karlsruhe als Regierungssitz.

Andreas Voßkuhle dementiert diese Sichtweise indigniert. Dazu bedient er sich eines Kant-Zitats: „Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden.“

Der Königsberger Aufklärer kann nichts dafür, in welchen Zusammenhang seine Thesen heute gestellt werden. Zu Voßkuhles Kant-Verständnis ist aber sehr wohl etwas zu sagen – auf die nicht geringe Gefahr hin, beim König von Karlsruhe in den Verdacht der Majestätsbeleidigung zu geraten.

Kant formulierte sein Diktum: „Alle Politik muss ihre Knie vor dem Recht beugen“ zu Zeiten des preußischen Absolutismus und der europäischen Fürstenherrlichkeit. Da war das Recht noch Mittel des Widerstands gegen feudale Willkür. Der aufgeklärte Absolutismus hat es Voßkuhle angetan. Doch mittlerweile herrscht in Europa die Demokratie: vom Volk legitimierte Politik, die das Recht setzt.

Sogar die unveräußerlichen Artikel eins bis neunzehn des deutschen Grundgesetzes sind Früchte demokratischer und politischer Entscheidungen, Resultat historischer Erfahrung und später Besinnung auf westliche Werte.

Es ist nicht der Himmel, der uns das Recht gibt. Auch die Richter sind nicht von Gott gesandt. Nicht einmal Andreas Voßkuhle ist zu uns herabgestiegen. Er wurde von einem politischen Gremium gewählt.

Warum aber sind die Deutschen ihren höchsten Richtern hörig?

Ist ihnen auf den verschlungenen Wegen vom Feudalstaat zur Demokratie die bürgerliche Freude an der Politik abhanden gekommen? Wirkt die lange Gewöhnung an die wilhelminische Militär- und Bürokratie-Monarchie nach? Das klägliche Scheitern der Weimarer Republik? Die verheerenden Nazijahre?

Fehlt es auch 2014 noch an stolzem Staatsbewusstsein? Braucht das deutsche Bürgertum die Voßkuhles als Ersatzautoritäten für seine nie gänzlich überwundene Obrigkeitsgläubigkeit?

Die oberste Obrigkeit in roten Roben? Die Politik darunter?

Kein schöner Gedanke, ein böser Verdacht.

 

 

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