Eine Frau mit Kopftuch geht in Duisburg-Marxloh neben einem Geschäft mit Hochzeitsbekleidung vorbei.
Das Problemviertel Duisburg-Marxloh – gescheitertes Multikulti? / picture alliance

Streitgespräch - „Leitkultur? Steht doch alles im Grundgesetz!“ – „Warum haben wir dann so viele nicht integrierte Zuwanderer?“

Kolumne: Lechts und Rinks. Immer wieder tauchen die Themen Zuwanderung und Integration in diesem Wahlkampf auf. Doch je nach Partei werden sie aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. So auch zwischen den Cicero-Diskutanten Angela Marquardt und Hugo Müller-Vogg

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Angela Marquardt saß von 1998 bis 2002 für die PDS im Bundestag. 2003 trat sie aus der Partei aus, und 2008 in die SPD ein. Sie ist Mitarbeiterin im Bundestagsbüro von Sozial- und Arbeitsministerin Andrea Nahles sowie Geschäftsführerin des Arbeitskreises „Denkfabrik“ der SPD.

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Hugo Müller-Vogg

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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Marquardt: Ich muss noch mal auf ein Thema zurückkommen, das Ihnen sicher gefällt. Auch in der ARD-Wahlarena mit Angela Merkel kam es wieder vor: Es ging um Überfremdung und den drohenden Rückgang unserer Kultur. Reden wir doch mal über diese immer wieder thematisierte Leitkultur. Aus verschiedenen Gründen konnte ich ja mit dem Begriff noch nie etwas anfangen. Innenminister de Maizière hat es ja mal versucht, unter anderem mit „wir geben uns zur Begrüßung die Hand“ zu umschreiben. Ich klopfe manchmal lieber auf den Tisch, im Norden sagen wir auch mal nur „Moin“ und im Süden sagen sie eher „Grüß Gott“. Also, was soll eine Leitkultur sein? Und selbst, wenn es sie gäbe, warum soll die unveränderbar sein? Leben nicht auch wir jetzt, so wie wir leben, weil es viele kulturelle Einflüsse seit Jahren und Jahrhunderten gibt?

Müller-Vogg: Das Thema ist ernster, als sie jetzt tun. Man kann eine Gesellschaft nicht nur mit Gesetzen zusammenhalten. Jede Gesellschaft braucht einen gewissen Grundkonsens über das, „was man tut“ und was nicht. Der der Ausländerfeindlichkeit unverdächtige Bassam Tibi sprach schon vor fast zwei Jahrzehnten mit Blick auf die Zuwanderung von der Notwendigkeit einer „Europäischen Leitkultur“. Er versteht darunter einen Wertekonsens, der Folgendes beinhaltet: Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung, Trennung von Religion und Politik, Demokratie, Pluralismus und Toleranz. Dabei muss klar sein: Auch Toleranz braucht Grenzen. Sonst müsste ich ja jede Form der Unterdrückung von Frauen bis hin zur Beschneidung von Mädchen als Respekt vor anderen Lebensweisen akzeptieren oder gar als Teil einer Multikulti-Idylle betrachten.

„Demokratie und Pluralismus sind keine Kulturfragen“

Marquardt: Ich meinte meinen Einwurf durchaus sehr ernst. Sie zitieren ja für eine Leitkultur tatsächlich nur das, was im Grundgesetz steht (lacht). Wie sieht es denn aber aus mit Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung? Und was definiert diese Vernunft, und wer entscheidet das? Der Marsch der sogenannten Lebensschützer, ist das nicht religiöse Offenbarung? Und wenn es die Trennung von Religion und Politik gibt, wieso wird dann in der Eidesformel die Möglichkeit der Bezugnahme auf Gott eröffnet? Demokratie und Pluralismus sind keine Kulturfragen, sondern unabänderliche Vorgaben des Grundgesetzes. Natürlich kennt auch meine Toleranz Grenzen, und doch haben wir alle viel zu wenig davon. Was ich nicht verstehe ist, warum Sie auf Multikulti-Idylle abstellen. Was meinen Sie in dem Zusammenhang damit?

Müller-Vogg: Um mit der Multikulti-Ideologie anzufangen, einem Begriff aus der alten Bundesrepublik. Damals schwärmten Grüne und Linke von einer Gesellschaft, in der es keinerlei staatlichen Anreiz oder Druck gibt, dass Zuwanderer aus anderen Kulturen sich an die deutschen Lebensgewohnheiten und Werte anpassen. Alle Ethnien sollten hier gleichberechtigt nebeneinander her leben können. Nicht Zuwanderer sollten sich anpassen, sondern allenfalls die Deutschen. Das Ideal: Deutschland als steuerfinanziertes Konglomerat von möglichst vielen Parallelgesellschaft. Als Bassam Tibi dem die Forderung nach einer „Europäischen Leitkultur“ entgegensetzte, wurde er von Links-Grün aufs Heftigste attackiert.

Heute können wir ja in Neukölln oder Duisburg-Marxloh studieren, wohin „Multikulti“ führt. Ich will jetzt nicht auf die Kölner Silvesternacht verweisen; das entsprach ja nicht unserem Alltag. Aber wenn knapp die Hälfte der türkischen Einwanderer der ersten und zweiten Generation sagen, religiöse Gesetze hätten für sie persönlich Vorrang vor staatlichen Vorschriften, dann wird doch klar, dass hier etwas furchtbar schief gelaufen ist. Noch ein Satz zu dem „Marsch für das Leben“. Bei uns darf jeder für seine religiösen Ansichten demonstrieren, sofern er das ordentlich angemeldet hat – selbst konservative Christen. Das hat doch nichts mit dem Vorrang religiöser Offenbarung vor staatlichen Gesetzen zu tun. Aber gegenüber christlichen Abtreibungsgegnern scheint ihre Toleranzschwelle sehr niedrig zu sein.

„Im Golfclub wird anders gesprochen als in der Obdachlosenunterkunft“

Marquardt: Herr Müller-Vogg, jetzt gerät aber Einiges durcheinander. Wir wollten doch über Leitkultur reden und was diese ausmacht. Jetzt fangen sie mit dem Begriff Multikulti-Ideologie an. Wir sind uns ja einig, dass das Grundgesetz als verfassungsmäßige Ordnung für alle hier lebenden Menschen gilt. Was sind denn aber nun „deutschen Lebensgewohnheiten und Werte“? Und warum sollen nicht alle Ethnien hier gleichberechtigt neben- und miteinander leben können? Was sollen diese Parallelgesellschaften sein? Ich frage mal anders: Glauben Sie nicht, dass es diese schon jetzt gibt? Ein Treffen der Milliardäre sieht anders aus als ein Frühstück für Erwerbslose. Die Gespräche im Golfclub sind andere als die in der Obdachlosenunterkunft – auch wenn es sich nicht um verschiedene Ethnien handelt. Ich verstehe einfach Ihre Logik nicht, nach der Zuwanderung per se ein Problem ist.

Und mich empört ernsthaft, wenn Sie jetzt bei der Debatte um Leitkultur, ich weiß immer noch nicht, was das ist, mit der Kölner Silvesternacht kommen. Nichts rechtfertigt, was da geschehen ist. Sexualisierte Gewalt selbst ist viel länger ein Problem. Sie wissen genauso gut wie ich, dass Sexualdelikte in der weit übergroßen Mehrheit in Nähebeziehungen stattfinden. Bei uns ist Vergewaltigung in der Ehe als Vergewaltigung erst seit 1997 strafbar. Und um „Nein heißt Nein“ gab es erhebliches Gezerre. Einig sind wir uns natürlich, dass jeder demonstrieren darf, solange von der Demonstration keine Straftaten ausgehen. Zum Glück kann man auch gegen Demonstrationen demonstrieren. Meine Toleranzschwelle hört da auf, wo religiöse Fanatiker, egal welcher Religion, mir vorschreiben wollen, wie ich zu leben habe.

„Leitkultur ist für mich eine Art Hausordnung“

Müller-Vogg: Sie halten offenbar Gegendemonstrationen zur Verhinderung von genehmigten Demos, deren Ziele Ihnen missfallen, für in Ordnung. Das ist doch wenigstens mal eine klare Ansage. Ich halte dagegen Versuche, die öffentliche Äußerung missliebiger Meinungen zu unterbinden, für tendenziell totalitär. Da mache ich keinen Unterschied, ob die sogenannte Antifa die freie Meinungsäußerung unterbinden will oder die AfD.

Zurück zum Thema Leitkultur. Wenn sehr viele Zuwanderer sagen, meine religiösen Gesetze sind für mich wichtiger als das, was der deutsche Staat verlangt, dann stört sie das offenbar nicht im Geringsten. Und das Nebeneinander von Reichen und Armen setzen Sie mit dem Nebeneinander von religiösen Fundamentalisten und aufgeklärten Demokraten gleich. Auch so kann man sich die Welt schönmalen.

Leitkultur, das ist für mich eine Art Hausordnung. Und die haben auch die zu verinnerlichen, die neu dazu kommen – nicht nur die Alteingesessenen. Niemand muss bei uns Schweinefleisch essen. Aber wenn zum Beispiel in Schulen oder Kantinen kein Schweinefleisch mehr serviert werden darf, dann ist das nicht Ausdruck von Toleranz, sondern von multikulturellem Fanatismus. Wenn eine Frau bei Behörden oder Banken ihren Schleier nicht lüften will, dann braucht sie das nicht – sie darf aber auch nicht damit rechnen, bedient zu werden. Wenn Eltern ihre Töchter aus religiös-kulturellen Gründen von schulischen Aktivitäten ausschließen, dann gehören sie bestraft. Vielleicht sollten wir an den Grenzen große Schilder aufstellen: „Achtung! Sie betreten einen demokratischen Rechtsstaat. Unsere Regeln und Gesetze gelten für alle – ohne Ausnahme.“ Keine Angst, ist nicht ganz ernst gemeint (lacht).

„Bei Ihnen läuft es immer auf einen Konflikt mit Zugewanderten hinaus“

Marquardt: Also, ich muss doch noch mal auf unser Ausgangsthema Leitkultur zurückkommen. Wir haben nämlich immer noch nicht geklärt, was das sein soll. Aber vorher noch etwas Anderes. Sie und ich schätzen Meinungsfreiheit, Demokratie und Pluralismus. Und selbstverständlich können Lebensschützer und andere demonstrieren. Wenn jedoch Menschen anderer Meinung nun ihr Missfallen darüber ausdrücken, ist das für mich keineswegs totalitär, sondern gelebte Meinungsfreiheit sowie gelebter Pluralismus.

Aber zurück zum Thema Leitkultur. Sie meinen, es störe mich nicht im Geringsten, wenn „sehr viele Zuwanderer“ sagen, meine religiösen Gesetze sind für mich wichtiger als das, was der deutsche Staat verlangt. Nun weiß ich nicht, wie Sie auf „sehr viele“ kommen. Aber mich stört generell, wenn religiöse Gesetze über dem Grundgesetz stehen. Das gibt es aber eben nicht nur bei Zuwanderern, sondern zum Beispiel auch im kirchlichen (Sonder-)Arbeitsrecht. Bei Ihnen läuft immer alles auf einen Konflikt mit Zugewanderten hinaus. Ganz ehrlich, das ist mir zu platt. Wenn für Sie die Leitkultur die Hausordnung ist, dann ist die Leitkultur ja das Grundgesetz. Dann verstehe ich nicht, warum Sie mir krampfhaft widersprechen (lacht). Das Grundgesetz gilt ganz klar für alle und eben nicht nur für neu hinzukommende Menschen. Wenn in der Hausordnung steht, dass ab 22.00 Uhr Nachtruhe ist, wollen Sie doch auch, dass alle sich daran halten und nicht nur die Neumieter.

Müller-Vogg: Nochmal: Jeder darf im Rahmen der Verfassung demonstrieren – und wer will, kann auch Gegendemonstrationen organisieren. Totalitär wird es für mich, wenn Gegendemonstranten das Ziel haben, eine genehmigte Demonstration zu verhindern. Das ist nicht „gelebte Meinungsfreiheit“, sondern links- oder rechtsradikaler Meinungsterror. Nochmals zur Leitkultur. Natürlich ist das Grundgesetz die Basis, aber es reicht nicht. Hier leben Hunderttausende, die formal integriert sind: Sie gehen einer Arbeit nach, schicken ihre Kinder zur Schule, achten Gesetze, zahlen ihre Steuern. So weit, so gut. Wenn jedoch ein muslimischer Familienvater seiner Frau jeden Kontakt mit deutschen Nachbarn untersagt, die Söhne für „wertvoller“ hält als die Töchter und diese zwingt, Kopftuch zu tragen, und ihnen jeden Kontakt mit männlichen Klassenkameraden verbietet, dann ist er eben kulturell nicht integriert. Der gebürtige Syrer und bekennende Muslim Bassam Tibi wusste schon, warum ihm die liberalen europäischen Verfassungen nicht ausreichten.  

Diese Diskussion ist Teil unserer Serie von Streitgesprächen zwischen der linken SPD-Politikerin Angela Marquardt und dem konservativen Publizisten Hugo Müller-Vogg. Trotz der politischen Unterschiede verbindet beide eine Freundschaft. Bis zur Bundestagswahl werden sie regelmäßig das Politgeschehen kommentieren.

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Christa Maria Wallau | Fr., 15. September 2017 - 13:31

Die Diskussion über das Thema "Leitkultur" mit stets den gleichen Argumenten und Gegenargumenten geht m. E. fast immer am Kern vorbei und als solche mir persönlich schon lange "auf den Keks". Die gebetsmühlenartige
Hervorhebung des "trockenen" Grundgesetzes als einigendes Band für eine Gesellschaft finde ich nur noch lächerlich.
Was außen vor bleibt, ist eine wesentliche Grundbefindlichkeit des Menschen, nämlich seine Bedürftigkeit nach dem Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gruppe (= Identität).
Diese k a n n bei gebildeten u. weitgereisten Menschen auch über eine geistig-kulturelle
Verbundenheit w e l t w e i t entstehen, bleibt aber
die große Ausnahme. In der Regel prägt sich das
Identitätsgefühl innerhalb eines bestimmten,
begrenzten Raumes aus, wobei viele Kleinigkeiten
zu dem Mosaik gehören, aus dem die anheimelnde
Gemeinsamkeit sich speist. Alles Fremde wird dann
als unangenehm u. sogar bedrohlich empfunden.
Das mag man gut finden oder nicht. Es ist eine
Tatsache!

Gerhard Krohmer | Mi., 20. September 2017 - 10:47

Antwort auf von Christa Maria Wallau

Liebe Frau Wallau,
ein sehr schöner Beitrag. Sie treffen den Nagel genau auf den Kopf.
Vielen Dank.

Thomas Külpmann | Do., 21. September 2017 - 08:21

Antwort auf von Christa Maria Wallau

Sie sagen in einem Satz so schön:

"Alles Fremde wird dann
als unangenehm u. sogar bedrohlich empfunden."

Das ist vermutlich nur die halbe Wahrheit.

Niemand wird ernsthaft einen Amerikaner, Portugiesen, Franzosen, Iren, Japaner, Chinesen... als besonders fremd empfinden (zumindest nicht, wenn er eine Verständigungsschnittstelle wie etwa die englische Sprache hat)

Wenn bei uns von "Fremdenhass" oder, abgeschwächt, von "Angst vor Fremden" gesprochen wird, betrifft das, wie ich es sehe, ausschliesslich Menschen mit muslimischem Kulturhintergrund und besonders diejenigen, die neu zugewandert sind. Und es steht die Frage im Raum, ob das wirklich so unbegründet und irrational ist. Deren Kultur steht mir nicht besonders nahe und löst kein Identitätsgefühl aus. Das ist bei z.b. Japanern und Chinesen wesentlich interessanter.

Wenn ich nach Leuten wie Tibi und anderen gehe, eher nicht, denn gerade aus deren Richtung kommen seit Jahren Warnungen, die in den Wind geschlagen werden.

Dr. Jürgen Herrmann | Fr., 15. September 2017 - 13:57

Das Thema Leitkultur wird mir zu akademisch. Praktischer m.E. wäre es, wir fragten uns, unter welchen Problemen leiden die Deutschen.
Sicher geht es uns in Deutschland gut, aber wir haben große Probleme. Und, dass es uns heute gut geht, heißt nicht, dass es morgen auch noch so ist. Wir sollten m.E. dringend über alle unsere tatsächlichen Probleme diskutieren (Euro, Migration, Technologiesprünge, Industrie 4.0, Energiewende, Wie geht es mit der EU weiter? .... usw. ...usw....). Wir sollten m.E. auch Alternativen für unser Handeln überdenken, dabei unsere Interessen kennen und wahrnehmen, aber auch die Interessen von anderen kennen und berücksichtigen.
Es gibt viel zu tun in Deutschland!
Wir können aber auch weiter über Leitkultur diskutieren oder in einem unpolitische Wahlkampf alle Problem mit Emotionen und Gesinnung zukleistern.
Die Alternative, nämlich Vernunft und Verantwortung walten zu lassen, scheint für die meisten Politiker nicht-machbar zu sein!

Fabian Memers | Fr., 15. September 2017 - 14:13

sind die Dinge, über die man NICHT reden muss. Frau Marquart verliert sich im Kleinklein, wenn sie die exakte Gewichtung des Händeschüttelns untersuchen will.
In der gesellschaftlichen Debatte geht es (Gott sei Dank) noch sehr um konkrete Entscheidungen. Merkels Grenzöffnung oder eine europäische Währung hat weniger mit Leitkultur als mit Ökonomie oder Politik zu tun.
Wichtig erscheint mir noch der Hinweis, dass es nicht zur Leitkultur passt, wenn man die Meinung von lediglich Andersdenkenden oder Andersfühlenden auf "falsche Kultur" absägt. Die Herrschenden haben Beispiel kein Recht, einen EURO-Währungs-Kritiker mit schlechter Kultur zu "kritisieren".
Tatsächlich gehen zwischen Deutschen die Meinungen so stark auseinander, dass man fast von anderen Kulturen sprechen möchte, aber ich glaube das ist falsch und wirkt eben emotional so stark. Immer noch sind unsere Gemeinsamkeiten größer als unsere Unterschiede, was auch für die meisten Deutschen mit Migrationshintergrund gilt.

Markus Michaelis | Fr., 15. September 2017 - 14:33

"Einig sind wir uns natürlich, dass jeder demonstrieren darf, solange von der Demonstration keine Straftaten ausgehen." Nun hängt es sehr von der Gesellschaft ab, was man, gerade im politischen Bereich (aber auch sonst), als Straftat ansieht und was als Tugend. Das ist ja schon ein Teil einer Leitkultur. Ich glaube Frau Marquardt hat ein Problem damit, wenn ein Begriff nicht 100% fest und unveränderlich definiert ist - das ist aber kein Begriff. Wenn ich Menschen in der Welt offen begegne, scheint es mir vollkommen außer Frage zu stehen, dass es große Unterschiede gibt, die ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat erstmal recht schwierig gestalten. Das würden Migranten genauso sehen - deswegen fordern sie ja auch je mehr das auch ihr Land wird, dass auch die Biodeutschen sich ändern müssen. Wenn alles easy wäre, könnten ja auch die Biodeutschen einfach irgendwie oder wie bisher weitermachen.

Ruth Falk | Fr., 15. September 2017 - 18:25

LEITKULTUR aus dem Sprachschatz ausmerzen, klingt schwer nach NS-Hinterlassenschaft.
Es gibt erprobte Lebensregeln für menschliches Zusammenleben, die sich in Jahrtausenden in Gesetzen verdichtet haben- siehe die Stele Hamurabbi als Vorwurf der 10 Gebote. Diese Gesetze müssen auch immer wieder dem Stand der Gesellschaft angepasst werden, aber dann gelten sie für ALLE, die in dieser Gesellschaft leben, GLEICHERMASSEN. Wem es nicht past, darf sich frei eine andere Gesellschaft suchen, so klar ist das. Das hat mit "Leiten" aber auch gar nichts zu tun, nur mit der Möglichkeit, innerhalb eines Kulturkreises friedlich mitenander zu leben.
P.s. ich bin gegen Händeschütteln, ist u.U. krankeitsübertragend.

Richard Schröter | Fr., 15. September 2017 - 21:03

Wie wäre es, in die Diskussion die Begriffe Moral und Sitte einzubeziehen, also wie tue ich etwas und warum? Mit der Definition der Begriffe sollte sich auch das "deutsche Wertegrundgerüst" herausstellen lassen, in dem sich jeder wiederfinden kann. Als Hilfestellung mochte ich das Buch von Mr. Tagesthemen Ulrich Wickert "Gauner muß man Gauner nennen - von der Sehnsucht nach verlässlichen Werten" in den Raum werfen.

Gerd Runge | Fr., 15. September 2017 - 21:17

stehen wie man will. Aber er existiert und ist sicher nicht in deren Verfassung in Granit gemeißelt.
Aber wir glauben, unser "way of life" steht buchstabengetreu in unserem Grundgesetz,
Trauriger Gesichtspunkt, daß allein der Begriff <Leitkultur> reicht, alles zu negieren.

Manfred Steffan | Sa., 16. September 2017 - 11:51

- nicht mehr und nicht weniger. Und es lebt von Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen kann, um den ehemaligen Verfassungsrichter Böckenförde zu zitieren. Um diese Voraussetzungen geht es - man mag sie Leitkultur oder sonstwie nennen. Wenn die Wertvorstellungen, die dem Grundgesetz zugrundliegen, nicht mehr tragen, nicht mehr Bestandteil der persönlichen Wertvorstellungen der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung sind, dann beginnt die Demontage des Grundgesetzes. Die derzeitige Entwicklung in der Türkei sollte uns ein warnendes Beispiel sein.

Rolf Pohl | Sa., 16. September 2017 - 16:32

... von europäischer "Leitkultur" in Deutschland von 1933 bis 1945 bedeuten nicht, dass eine europäische oder regional z.T. voneinander abweichende sog. Leitkultur nicht mehr existiert. Eine Leitkultur die sozusagen auch als Hausordnung bezeichnet werden kann wie Müller-Vogg es nennt. Über viele hunderte Jahre weitervererbte und/oder weitergegebene, übliche Verhaltensweisen oder Verhaltensmuster wirken und wollen beibehalten werden. Das heißt nicht, dass zugewanderte Menschen z.B. Schweinefleisch essen müssen, sich im Bikini wohlfühlen sollen oder Blasmusik zuzuhören haben.
Menschen die hier herkommen müssen derartiges allerdings ertragen und haben sich an hier gültige Gesetze uneingeschränkt für Jedermann/-frau zu halten.

ingrid Dietz | Sa., 16. September 2017 - 18:03

ist der Überbietungswettbewerb einzelner Bundesländer bzw. Politiker betreff gesetzlicher Ausnahmeregelungen für bestimmte religiöse Gruppierungen !
Diese politische "Anbiederung" ist einfach nur widerlich zu nennen und absolut nicht nachvollziehbar !
Gleiches Recht für alle gibt es doch schon lange nicht mehr !

Rainer Hinz | So., 17. September 2017 - 12:25

Es hat zu vielen Zeiten Ein- und Auswanderungen in Deutschland bis Germanien gegeben. Bestimmt gab es dabei kulturellen Austausch. Es gab bestimmt auch Dinge die in die Kultur aufgenommen wurden, andere wieder nicht. Aber es sollte im Einverständnis der Mehrheitsbevölkerung sein, was aufgenommen wird oder eben nicht.
Der kulturelle Raum in den Kinder hineinwachsen, in dem Erfahrungen gesammelt werden, die sich zu Haltungen verdichten sind die Familie. Die wiederum ist eingebettet in die Stadt, Region, Land mit den jeweiligen natürlichen, ökologischen, politischen, historischen und religiösen Gegebenheiten. Diese Erfahrungen sind im Gehirn festgelegt und lassen sich durch einen Grenzübertritt nicht ändern. Das erfordert harte Arbeit und kann man von der Mehrheitsbevölkerung nicht verlangen.

Rolf Pohl | So., 17. September 2017 - 16:44

... ginge diese Diskussion schwerpunktmäßig um Ihre Eröffnung ob zur Begrüßung nun Moin, Moin gesagt wird oder Grüß Gott. Jemand auf den Tisch klopft, wie z.B. Sie, oder ein/e andere/r mit dem Kopf nickt, wären wir wohl innerhalb einer Minute durch damit. "Sie" dürfen im Land alle Varianten nutzen oder auch die Hand reichen. In dem Fall gings und gehts allerdings allein darum, dass z.B. ich, auch Ihnen als Frau, die Hand reiche zur Begrüßung. Müssen Sie oder ich natürlich nicht, es ginge auch unhöflicher, sozusagen das freundliche Gegenüber igrorierend oder ausgrenzend.
Sehn Sie liebe Frau Marquardt, da hätten wir ein kleines Beispiel von gepflegtem wie üblichem Kulturverständnis in Mitteleuropa, natürlich auch in Deutschland. "Sie können`s als Leitkultur oder über Generationen weiterempfohlene Höflichkeitsform bezeichnen, egal wie.
Das Hochreissen des ausgestreckten, rechten Armes zur Begrüßung gehört seit 7 Jahrzehnten, zum Glück und zu Recht, nicht mehr zur Leitkultur ;-)

ingrid Dietz | So., 17. September 2017 - 20:17

auf der Grundlage des Grundgesetzes ?
Dann würden endlich einmal der Überbietungswettbewerb der einzelnen Bundesländer hinsichtlich gesetzl. Ausnahmeregelungen für bestimmte (religiöse) Gruppieren Einhalt geboten !

Gerhard Krohmer | So., 17. September 2017 - 20:32

zu dem Thema fällt mir ein Spruch von Karl Jaspers ein:
Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde.

Achim Scharelmann | Mo., 18. September 2017 - 17:35

Antwort auf von Gerhard Krohmer

Na, dann war ich aber schon öfter mal heimatlos, wenn das Karl Jaspers so meinte wie er es gesagt hat und nach meinem Kenntnistand wurde er auch nicht von allen verstanden und es wurde ihm dann in diesem Sinne die Heimat entzogen.

Wolfgang Beck | So., 17. September 2017 - 21:28

Wer hat eigentlich in den Diskurs, bei dem es um Politik, Staat, Demokratie, Staatsbürgerrecht und dergleichen geht, den Begriff Kultur eingeführt? M.E. diejenigen, die angefangen haben, von der multikulturellen Gesellschaft zu reden, und die dann, vielleicht jetzt etwas vergröbert gesagt, diese Art von Gesellschaft als die wahre, die der demokratischen Staatsform durch und durch angemessene Gesellschaft propagiert haben. Ist das so richtig?
Zur Sache: In der Diskussion geht es doch um die Frage: Ist eine multikulturelle oder eher eine einer Leitkultur verpflichtete Gesellschaft die unabdingbare Voraussetzung für ein demokratisches Staatswesen? Die Frage krankt schon allein daran, daß hier der Kulturbegriff nicht definiert wird. Gemeinhin unterscheiden wir zwischen einer Kultur im engeren Sinne, wobei wir mehr an Kunst und herausragende geistige Leistungen denken, und einer Kultur im weitesten Sinne, die alle menschlichen Hervorbringungen unter diesen Begriff zusammenfaßt.

Wolfgang Beck | So., 17. September 2017 - 21:31

Die Frage muß ganz anders gestellt werden. Ist Kultur wirklich etwas, was in einem demokratischen Rechtsstaat, der diesen Namen auch verdient, eine so wichtige Rolle spielt? Anders gefragt, was ist denn wirklich wichtig? Daß diejenigen, die hier leben, richtig gut integriert sind, mit leicht polemischen Unterton könnte man sagen, äußerlich gut angepaßt sind? und immer schön brav die Gesetze befolgen? - wie das hier aus dem Gespräch zwischen Frau Marquardt und Herrn Müller-Vogg hervorgeht. Das wäre eine Forderung, die im Obrigkeitsstaat genauso ihre Gültigkeit hat. Das kann’s ja wohl nicht sein.
Also jetzt wirklich zur Sache. Im Endeffekt geht es also um folgende Frage: Was unterscheidet den Obrigkeitsstaat von der Demokratie? Den Satz ‚Wir sind das Volk‘ könnte man als den Satz bezeichnen, der den demokratischen Gedanken im Kern beinhaltet.

Wolfgang Beck | So., 17. September 2017 - 21:32

Er beinhaltet sicher nicht primär eine angepaßte Haltung, sondern die Identifikation des Bürgers mit dem Staat, dem Gemeinwesen und all denen, die zu diesem Staat gehören. Er beinhaltet die simple Einsicht, daß das Individuum mitverantwortlich ist für den gesellschaftlichen Fortschritt.

Henning Magirius | Mo., 18. September 2017 - 10:00

Die deutsche Kultur ("Leitkultur") zeichnet sich durch ihre Vielfalt aus. Und dies in zweifacher Hinsicht: In ihrer Vielfalt von Architektur, Dichtung, Musik und Küche und dass sich diese Vielfalt zudem noch in einer regional-föderalen Vielfalt ausprägt. Gefährdet war und ist diese Vielfalt durch die Moderne (so gibt es keine regionale Architektur mehr) und durch die Globalisierung. Das Deutsche an dieser Kultur sind als bindende Glieder die christlich-jüdische Religion, die deutsche Sprache, freie Marktwirtschaft (z.B. der vielfältige und zahlreiche Mittelstand) und die demokratische, politische Ordnung.

Achim Scharelmann | Mo., 18. September 2017 - 17:01

Schon der Begriff Leitkultur ist ein Offenbarungseid allen Fremden und uns selbst gegenüber. Wir leben hier im Land die jahrhunderte alte verfestigte Kultur der Deutschen und wer sich hier integrieren will, sei es aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen hat sich dem Primat des Volkes anzupassen und nicht umgekehrt. Nicht wir müssen uns verbiegen, sondern all jene, die hier rein wollen und auch bereit sind unter gleichen Bedingungen in den Wettbewerb einzutreten und dafür darf es keinerlei Ausnahmen geben, weder materiell noch ideell. Jeder muß wissen, daß er mit seinem Grenzübertritt das Land der Deutschen betritt und deren Regeln sind zu befolgen, ansonsten ist es jedem selbst überlassen sich ein anderes Land seiner Wahl zu suchen.

Toni Röder | Di., 19. September 2017 - 23:19

Fragen Sie einen Briten oder einen Italiener, was deutsch ist. Oder fragen Sie einen Franzosen oder Spanier. Ein jeder wird dazu einen Kommentar abgeben können. Und es wird unter allen Einschätzungen sogar eine große Schnittmenge geben. Oder fragen Sie einen Türken, der (womöglich seit Jahrzehnten) in Deutschland lebt, was er im Urlaub in der Türkei zu hören bekommt, wie deutsch er inzwischen wäre.

"Das Deutsche" oder von mir aus "die deutsche Leitkultur" ist mehr als Sprache plus Grundgesetz.

Gesetze (auch das Grundgesetz) sind nicht die Kultur - sie sind lediglich Abbild der Kultur.