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() Als die konservative Welt noch in Ordnung war: Franz-Josef Strauß spricht vor Vertriebenen
Sehnsucht nach vorgestern

Still und heimlich starb der deutsche Konservatismus. Übrig blieben der vornehme Auftritt, politische Taktik, unverbindliche Gesinnung und kulturkritische Melancholie. Was heute eigentlich noch „konservativ“ ist, kann seit längerem schon kein Konservativer mehr sagen.

Erinnert sich noch jemand an das Wort „Tendenzwende“? Es kam Mitte der siebziger Jahre auf, als die hohen Erwartungen von 1968 auf die Wirklichkeiten einer Republik trafen, die nun nicht mehr länger „restaurativ“, wie es abschätzig hieß, sondern sozialliberal regiert wurde. Teils wurde jene Wende ausgerufen, teils wurde sie beklagt. In beiden Fällen sollte sie eine nach vier, fünf Reformjahren sich abzeichnende Tendenz ins Konservative bezeichnen, die den Staat, aber auch das intellektuelle Milieu der Bundesrepublik nunmehr bestimme. Die einen forderten damals die Wiederherstellung von „Regierbarkeit“, „Mut zu Erziehung“ und eine Abkehr von „Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“. Die anderen konstatierten eine Kündigung des Konsenses bürgerlicher Aufklärung, ein Übermaß an Carl-Schmitt-Lektüre, falsche Normalität sowie technokratische Attacken auf den Wohlfahrtsstaat, der währenddessen allerdings prächtig wuchs. Kurz darauf wurden die „Postmoderne“ und eine geistig-moralische Wende ausgerufen. Mrs. Thatcher war da schon im Amt und kannte keine Gesellschaft mehr, nur noch Individuen und Familien. Der amerikanische Neokonservatismus verkündete wenig später, „moral values“, soziale Ungleichheit sowie ein hohes Verteidigungsbudget seien die politische Essenz am Ende der Geschichte. Bis vor kurzem schien sogar die Weltpolitik von ehemaligen Insassen konservativer amerikanischer Philosophieseminare, von Leo-Strauss-Lesern und Absolventen der Platon-Kurse Allan Blooms, den sogenannten „Neocons“ also, gemacht zu werden. Erinnert sich heute noch jemand an Wolfowitz, Perle und Kristol junior? Fasst man die vergangenen vierzig Jahre so zusammen, dann erscheinen sie politisch als ein einziger Triumphzug der Konservativen. Entweder Konservative regierten oder sie zwangen, wenn sie nicht regierten, ihren einstmals linken Gegnern die Maximen auf, nach denen zu regieren sei. Und sosehr die Kampfbegriffe gegen sie wechselten – sozialtechnokratisch, neokonservativ, postmodern, neoliberal (Jürgen Habermas hat sie mit unglaublichem Gespür für die Konstanz der Konflikte alle ausprobiert) –, so wenig schien sich diese „konservative“ Tendenz zu ändern. Doch machen wir einmal die einzig mögliche, die lokale Probe auf diese Vermutung. Schauen wir uns unsere Konservativen von heute an. Fast unwillkürlich geht der Blick zur Union. Wo sonst auch sollte man politische, also nicht nur publizistische Konservative hierzulande suchen? Die Unterscheidung ist wichtig, denn es war noch nie schwer, publizistisch konservativ zu sein. Man macht es wie die Kritische Theorie auf der Linken auch und wertet einen philosophischen, staatsrechtlichen und soziologischen Lektürekanon aus, um der Gesellschaft samt ihrem Staat vorzuwerfen, zu wenig den Ideen konservativer politischer Schriftsteller und Geisteswissenschaftler zu entsprechen. Das aber ist, auch wenn es Intelligenz und Sinn für Ästhetik bezeugen kann, nicht konservativ, das ist nur vornehm. Folgerichtig ähneln sich dann die konservative und die linke Kulturkritik bis ins Detail und bis ins Personal. Worin besteht demgegenüber der nicht nur räsonierende, sondern tätige Konservatismus? Schaut man auf die Union, dann besteht er seit Jahrzehnten und gegenwärtig mehr denn je in Taktik, nur in Taktik. Zu schlechterdings keinem politischen Thema existiert eine Festlegung. Dass die Kanzlerin am liebsten schweigt, hat weniger mit Wortkargheit und konservativem Desinteresse an bloßen Diskursen zu tun als mit ihrem von keinem Dogma behinderten Instinkt, auf jeden Fall so lange abzuwarten, bis sicher ist, womit man sich nicht in der praktischen Politik blamiert. Bekanntlich meidet sie vorzugsweise das Wort „konservativ“, so als könne man sich mit ihm besonders leicht bloßstellen. Damit dürfte sie recht haben. Man muss an Angela Merkel das immense Gespür dafür bewundern, was einem später alles vorgehalten werden könnte, wenn man einmal zu konkret wird – und das heißt ja, wenn man sich einmal „konservativ“ an eine bestimmte Gegenwart bindet. Oder anders formuliert: Bemerkenswert ist ihr Desinteresse an der Phrase, die konservative Inhalte nur vorgibt, ohne dabei Rückfragen, was an ihnen denn konservativ sei, auch nur zehn Minuten lang standhalten zu können. Beispiele für diese Phrasenhaftigkeit des Konservatismus sind nicht schwer zu finden. Binnen einer Woche haben gerade zwei Politiker überraschend ihren Rücktritt erklärt, von denen es hieß, dass sie in der Union für etwas standen. Doch wofür? Für zwei Seiten des gegenwärtigen Konservatismus? Ganz als wäre es so, kam in der CDU überall dort leichte Unruhe auf, wo man auf die Vokabel „konservativ“ noch ausdrücklich Wert legt. Im Fall Roland Kochs war es offenkundig. Seine Positionen und Deklarationen zur Einwanderung, zur doppelten Staatsbürgerschaft, zur Jugendkriminalität oder zum Kopftuchtragen im öffentlichen Dienst hatten ihn zum Leitgesicht des rechten Flügels der CDU werden lassen. Seinen Rückzug begleiten Klagen darüber, dass es dieser Partei nun vollends an Figuren fehle, für die Politik nicht nur Kompromiss heißt. Das war noch einer, hieß es dann, ein Eckpfeiler, ein Urgestein, ein Mann der klaren Ansagen, der noch Kante zeigte und dergleichen mehr. Horst Köhler hingegen war beispielhaft „konservativ“, wenn darunter die vermutete Gesinnung von Honoratioren, Bürgermeistern und Sparkassenvorständen, Beamten, IHK-Vertretern und Reserveoffizieren verstanden werden soll. Das sind zweifellos die Leute, deren Alltagshandeln den Wohlstand dieses Landes trägt. Gewerbefreiheit, Kirchgang, ein moderates Bildungstreben, Ehe, Fleiß, Patriotismus – man kann die Liste solcher Gesichtspunkte verlängern, aber es ist deutlich, dass der Konservatismus, der sich aus ihnen ergibt, einer der lokalen Orientierung ist. Er hat nichts Parteiliches. Die demoskopische Beliebtheit Köhlers dürfte ihren Grund insofern auch in der Bejahung einer Person gehabt haben, deren rhetorische Unbeholfenheit als Redlichkeit wahrgenommen wurde, und in deren Irrtümern das Gemüt geschätzt wurde, das sie machte, in deren Wirtschaftsbejahung der Geist des Besitzbürgertums und in dessen Wirtschaftskritik der Geist der Industrie diesseits von Weltfinanzmärkten ein Echo fand. Man vermutete den „common sense“ in ihm. Doch weder das eine noch das andere dokumentiert eine konservative Position. Für Koch war das konservative Register nicht viel mehr als eine Frage effizienter Wahlkampfführung. Beispielsweise meldete er sich, nachdem er über demonstrierten Widerstand gegen die rot-grüne Einwanderungspolitik mittels einer Postkartenaktion ins Amt gekommen war, nie wieder in Sachen Staatsbürgerschaft zu Wort. Auch wäre die Frage, was sein politisches Programm war, diesseits der Auskunft „regionales Wirtschaftswachstum“ kaum zu beantworten. Die wahre Beschaffenheit seines Konservatismus merkten die Hessen spätestens, als er die Gymnasien drangsalierte. Köhler hingegen zeigte als Wirtschaftsliberaler, dem als Präsident das Gutheißen des Gegenteils zugemutet wurde, fast exemplarisch und qua Amt, dass aus konservativer Gesinnung und „Werten“ politisch noch so gut wie gar nichts folgt. Weshalb? Weil die Werte ständig miteinander in Konflikt geraten und mal die einen, mal die anderen vorgezogen werden, was den Eindruck ruiniert, in ihnen etwas Instruktives zu haben. Wer demgegenüber glaubt, sie stützten sich alle gegenseitig und es bedürfe zur guten Praxis nur Gesinnung, wird wie Köhler zum Ritter von der traurigen Gestalt. Der Konservatismus ist insofern längst ein Liberalismus, der Prinzipien vor allem hat, um von ihnen Ausnahmen machen zu können, ohne relativistisch dazustehen. Man kann CDU und CSU darum trösten. Den Vorwurf, ihr falle zum Begriff „konservativ“ nichts mehr ein, oder allenfalls noch tagesaktuelle Gesten, muss die Union nicht persönlich nehmen. Der Ruin des Begriffs ist ein allgemeiner. Mit allem, wogegen der Konservatismus seit der Französischen Revolution sich empörte, hat die Gegenwart ihren Frieden gemacht: Aufklärung, Börse, politischer Zentralismus, Technik, Wohlfahrtsstaat, Hedonismus, Verschuldung, kosmopolitische Haltungen, Lobbyismus. Dem entgegengesetzte Konzepte wie der „organische Staat“, das „Abendland“ oder auch die „formierte Gesellschaft“ konnten schon genauem Nachdenken nicht standhalten. Um wie viel weniger hielt der Begriff angesichts einer sozialen Dynamik, die konservative Proteste gegen religiöse Indifferenz, berufstätige Frauen, betriebliche Mitbestimmung, vorehelichen Geschlechtsverkehr, Urbanisierung, moderne Kunst („Verlust der Mitte“) oder Wehrdienstverweigerung ins Reich der frommen Wünsche verwies. Was eigentlich noch konserviert werden sollte, kann seit längerem schon kein Konservativer mehr angeben. Die zweite Zerstörung der alten Innenstädte im Zeichen von Wirtschaftsfreiheit und autogerechter Urbanität, die Belebung der Kommunikation in Familien (die „Keimzellen der Gesellschaft“!) durch das Privatfernsehen, oder die subventionierte Industrialisierung der Landwirtschaft – es gibt viele Beispiele dafür, dass die üblichen konservativen Programme verständlicherweise einen großen Bogen um die Frage machen, worauf sich ihre Erhaltungsinteressen eigentlich richten. Das gilt auch für den intellektuellen Zuspruch, den die Vokabel „konservativ“ hier und da noch findet. Verfassungsrichter Udo Di Fabio etwa arbeitet an einem konservativen Staats- und Gesellschaftsbild, in dem konservativ zu sein auf die Formel zusammenschnurrt, nichts zu übertreiben: weder den Staat noch den Markt, weder die Scheidung noch die Ehe, weder die Nation noch Europa, weder die Säkularität noch die Religion. Das ist sympathisch, wenn man es nicht ebenso wie die Warnung vor zu viel Konsum oder die Forderung, das Privateigentum müsse geachtet werden, irgendwie hilflos und politisch wenig informativ nennen will. Folgerichtig erklärte Di Fabio am Ende eines Beitrags, der das „mögliche Konzept eines modernen Konservatismus“ begründen sollte, die Frage „Was ist konservativ?“ selbst für obsolet. Welchen Belastungstests diese konservative Rhetorik ausgesetzt ist, zeigen nicht nur Jugendliche, die dem Papst zujubeln, während sie Kondome in den Taschen haben, oder sonntägliche Freunde der Schöpfung, die sich werktäglich die Erde im Jeep untertan machen. Auch die Kritik der Konservativen am moralischen Pluralismus, der mit 1968 eingesetzt habe, zeigt nur Anhänglichkeit an alte Konfliktlinien, die aber ins Leere laufen. Das Privatfernsehen haben nicht die Sozialliberalen eingeführt, die Rechtschreibreform wurde zuletzt von Bayern aus durchgekämpft, bei der Verkürzung der Gymnasialzeit zur Verbesserung des Standorts zeigte Baden-Württemberg den größten Eifer, die Utopien der Atommüllendlagerung oder der Durchakademisierung von gut der Hälfte eines Jahrganges sind kein Privileg von linken Projektemachern. Im Gegenteil. Und in keiner dieser Sachfragen bindet die jeweils eingenommene Position schon die Haltung in allen anderen. Eben dies aber suggerieren Begriffe wie „konservativ“ und das Kontrastbild „1968“. Man spielt Entschiedenheit und Prinzipientreue, aber ohne Bereitschaft, für sich selbst die Verzichte hinzunehmen, die jede feste Zwecksetzung, jede Priorität notwendig bedeutet: Politische Stimmenverluste beispielsweise oder das Erstaunen einer Öffentlichkeit, der mitgeteilt werden müsste, dass man in diesem oder jenem Punkt nichts zu ändern gedenke, auch wenn das Wirtschaftswachstum davon betroffen wäre. Um den eigenen Relativismus zu verzieren, werden dann häufig Paradoxien angeboten. Schon Bismarck meinte, wenn es denn Revolution sein solle, wolle er sie lieber machen als erleiden. Konservativ sein, variierte Franz Josef Strauß, bedeute, „an der Spitze des Fortschritts zu marschieren“. Heute heißt das dann wahlweise, „nur wenn sich alles ändere, bleibe alles gleich“, oder: der Konservatismus dürfe nicht von gestern, sondern müsse von heute und morgen sein. „Konservativ im Herzen – progressiv im Geist!“ (Mappus, Mißfelder, Söder und Wüst). Siehe „Laptop und Lederhosen“. Das alles sind Klingeltöne, keine Gedanken. Nicht der Opportunismus ist zu beanstanden, aber die Versuche, ihn zu kaschieren, sind ziemlich billig, und die Leute merken das auch. Bleibt die Frage, ob der Pragmatismus einer Kanzlerin, von der ganz folgerichtig niemand weiß, was sie eigentlich will, die einzige sinnvolle Schlussfolgerung aus dieser Zustandsbeschreibung des Konservatismus ist. Vielleicht nicht. Immerhin kann man nach wie vor zwischen politischen Wünschen und dem unterscheiden, was aussichtsreich ist, zwischen einer Politik der Ziele und einer Politik der Restriktionen. Moderne Politik neigt dazu, sich im Entwerfen von Zielen zu erschöpfen, deren Unerreichbarkeit dann durch permanente Reform verdeckt wird. Man strebt eine Verdopplung der Akademikerquote bei steigender Qualität der Abschlüsse an, möglichst exponentiellen Autoexport bei erhöhtem Klimaschutz, Steuersenkung und Verschuldungsdämpfung bei konstanter Wohltätigkeit, die Attraktivität der Familienbildung bei Idealisierung mobiler Globalkarrieren und so weiter. Dass alles mit allem vereinbar ist, wenn nur genügend Geld und Rechtsansprüche investiert werden, kommt einer modernen Mentalität entgegen, die abzulehnen es keiner moralischen Kulturkritik bedarf: Es genügt der Hinweis darauf, dass manches einfach nicht geht, und wenn die Kassen noch so voll wären, nicht individuell geht und nicht gesellschaftlich, dass manches sich widerspricht. Eine denkbare konservative Haltung wäre in Opposition zum Reformeifer schlicht die des fortgesetzten Hinweises auf allerlei Nebenfolgen solcher Reformen. Dass die einzige jüngere soziale Bewegung, die in der Lage war anzugeben, was sie konservieren möchte, auch gleich die politisch erfolgreichste wurde, die ökologische nämlich, spricht dafür, ihren Grundgedanken auch einmal auf andere Politikfelder anzuwenden.

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