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Europas Jugend - Nicht unpolitisch, sondern unselbstbewusst

Immer wieder heißt es, Europas Jugend sei apathisch und unpolitisch. Mit teuren Kampagnen will die EU auch 2016 das politische Interesse wieder erwecken. Doch das ist sinnlos verbranntes Geld: Das größte Problem der jungen Generation ist nicht Ignoranz, sondern mangelndes Selbstbewusstsein. Eindrücke aus einer Reise in 14 Länder

Autoreninfo

Vincent-Immanuel Herr ist Aktivist und Autor. Er studierte Geschichte, Politik und Soziologie in den USA und Deutschland und konzentriert sich in seiner Arbeit darauf, die Stimme junger Menschen in Europa zu stärken.

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Europa, dieser schwerfällige, vorgestrige Kontinent, stecke mitten im Untergang, war kürzlich mal wieder in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu lesen. Unaufhaltsam und auf Kosten der jungen Generation, schrieb der Autor Boris Pofalla. Seinen Altersgenossen, also auch uns, riet er deshalb: „Haut doch ab!“, wandert aus, hier in ‚Old Europe’ gebe es nichts mehr zu holen.

Vor dem Hintergrund von Griechenlandkrise, Jugendarbeitslosigkeit, entfesselten Märkten und verkrusteten politischen Strukturen erscheint diese Analyse zunächst plausibel: eine schon zahlenmäßig unterlegene Generation könne sich da ohnehin nicht behaupten. Der Kampf sei aussichtslos, weshalb man ihn gar nicht erst führen brauche.

Die Einstellung erinnert ein klein wenig an Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. In dem Bestseller der Weimarer Republik ist von einem unabwendbaren Ende der westlichen Kultur die Rede.

Dabei mangelt es Europas Jugend nicht in erster Linie an Möglichkeiten, an politischem Interesse oder Erfahrung. Was unsere Generation im Angesicht katastrophaler Zustände und Entwicklungen zurückhält, ist ein ausgeprägter Mangel an Selbstbewusstsein.

Das ist unser Eindruck, nachdem wir im vergangenen Jahr Jugendliche in 14 europäischen Ländern befragt haben. Auf der von der Stiftung Mercator und der Heinrich-Böll-Stiftung geförderten Forschungsreise wollten wir mehr erfahren über unsere Generation, die in den Medien regelmäßig als „apathisch“ oder „verloren“ betitelt wird. Aber stimmt das überhaupt? Was sagen die jungen Menschen selbst?

Demokratie ist selbstverständlich geworden


Bereits bei unserem ersten Stopp in Stockholm beobachteten wir ein mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und den Wert der eigenen Stimme. Der Trend verfestigte sich, je weiter südlich wir kamen, blieb aber im Grunde gleich: Ein Großteil der jungen Menschen glaubt nicht, als Individuum irgendeinen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen zu können. „Wer hört mir schon zu? Es interessiert sich doch keiner dafür, was ich sage“, erklärte etwa ein junger Spanier. Das klingt nach Pessimismus.

Es zeigte sich zudem, wie vernetzt junge Menschen untereinander sind. Ob in London oder Sofia, Sevilla oder Lviv: Junge Menschen haben einen breite Basis an Gemeinsamkeiten und Werten, allen voran die Liebe zu Demokratie, Reisefreiheit, persönlicher Entfaltungsmöglichkeit und internationalem Austausch. Das Erstaunliche: die genannten Werte basieren auf Errungenschaften der EU und den Vorteilen eines freien und vereinten Kontinents. Tatsächlich aber bringen die wenigsten jungen Menschen diese Vorzüge mit den politischen Institutionen der EU in Verbindung.

Demokratie, Freiheit und Individualität werden vielmehr als selbstverständlich angesehen. Nicht ganz verwunderlich bei einer Generation, die nach dem Mauerfall aufgewachsen ist. Lediglich junge Menschen in der Ukraine und der Türkei zeigten uns, dass genau diese Vorzüge nicht eine Norm darstellen, sondern in der Tat ein erstrebenswertes und hohes Ziel, für das sich politischer Einsatz lohnt. Das Engagement der Ukrainer auf dem Maidan 2014 war zudem ein wichtiges Signal an junge Menschen in anderen Ländern.

Weniger predigen, mehr reisen


Euro-Pessimismus und der Aufruf auszuwandern sind also nicht nur unangebracht, sondern schätzen die Situation vollkommen falsch ein. Es mangelt Europas Jugend nämlich genau nicht daran, sich politisch einbringen zu können, sondern daran, es überhaupt erst zu versuchen. Unsere Generation hat lange still gehalten und viel über sich ergehen lassen. Das ist umso erstaunlicher, da es sich um eine Generation handelt, die besser ausgebildet, besser vernetzt und innovativer ist als jede Generation zuvor. Dieses Potenzial wird aber nur in seltenen Fällen für politische und gesellschaftliche Veränderung mobilisiert.

Bislang zielen viele Versuche, Europas Jugendliche zum Mitmachen zu bewegen, vor allem auf Aufklärungsarbeit: politische Kampagnen, Bildungsprojekte oder aktivierende Broschüren. Das alles ist zwar wichtig und richtig, zielt aber nicht auf den Kern des Problems. Wichtiger wäre es, Unsicherheiten abzubauen.

Das ist eine psychologische oder empirische Arbeit. Junge Europäer sollten nicht weggeschickt werden, sondern verstärkt innerhalb Europas reisen. Mobilität, auch außerhalb der EU, ist dafür ein Schlüssel. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sozio-ökonomische Schichten erreicht werden, die bisher wenig praktische Auslandserfahrung gesammelt haben. Die #FreeInterrail-Kampagne ist ein guter Ansatz, auch der Ausbau der Hochschulprogramme Erasmus+. Hier müssen Zugangshürden weiter gesenkt und die Breitenwirkung verstärkt werden. Grundsätzlich ist es richtig, Austauschprogramme, besonders mit politischem Hintergrund, zu stärken.

Mehr Teilhabe von Jüngeren


Anders als bisher angenommen müssen gerade auch politische Parteien und Gruppen ihren Fokus verändern: Zur Stunde wird meistens versucht, das politische Interesse junger Menschen zu steigern. Vergeblich – solange junge Menschen nicht an den Wert der eigenen Stimme glauben.

Der richtige Ansatz ist hier, verstärkt jüngere Menschen in Entscheidungs- oder Beratungspositionen einzubeziehen. Es hilft ungemein, wenn junge Menschen andere junge Menschen in politischen Ämtern und Funktionen sehen – und sei es nur beratend. Das Einführen von Jugendquoten kann dafür ein wichtiges Symbol sein. Jegliche Form der Bildungsarbeit muss präzise Zugangswege zu politischen Entscheidungen aufzeigen. Ein Schulfach zur politischen Teilhabe in der EU ist ebenso ein hervorragender Vorschlag.

Letztlich hängt das schlechte Selbstwertgefühl unserer Generation natürlich auch maßgeblich mit einer miserablen wirtschaftlichen Lage zusammen. Daher muss ein Beenden prekärer Beschäftigungsverhältnisse und unsicherer Karrieremöglichkeiten nicht nur auf dem Grundsatz fußen, Arbeitslosigkeit zu senken. Jungen Menschen sollte man nicht bloß stumpfe Arbeit ermöglichen, sondern vielmehr sinn- und identitätsstiftende Tätigkeiten. Hier ist zum Beispiel ein Ausbau des NGO-Sektors wünschenswert. Auch Stiftungen – gerade in Deutschland ein wichtiges Standbein der politischen Arbeit –, aber auch die freie Wirtschaft sollten junge Menschen, die sich gesellschaftlich engagieren wollen, besser fördern und unterstützen. Nichts ist so desillusionierend, wie das Gefühl, wichtige Arbeit zu tun, aber keinen Lohn dafür zu bekommen.

Es bringt nichts, Europa und seine Jugend abzuschreiben. Die junge Generation hat Potenzial – zur Fülle. Dieses gilt es voll auszuschöpfen, die kreative Energie in die Gesellschaft einzubringen. Daher sagen wir: Europa. Jetzt erst Recht!

 

Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer sind Autoren und Aktivisten aus Berlin. Sie forschen zur Jugend und Zukunft Europas, veröffentlichten im Herbst 2015 ihren Europa-Essay „Who, If Not Us?“ und bauen gerade einen eigenen Think- und Do-Tank auf www.herrundspeer.de

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