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25 Jahre Mauerfall - Die Generation Freiheit hat Angst vor Veränderung

23 Millionen Deutsche können sich nicht an den Mauerfall erinnern. Es sind die nach 1985 geborenen. Was wir, die Generation Privatleben, aus den Geschehnissen des Jahres 1989 lernen können

Autoreninfo

ist Aktivist und Autor. Er studiert Wirtschaft an der HWR-Berlin und ist Botschafter der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen. Er ist Co-Initiator des Generationenmanifestes. www.martinspeer.de

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Es war kurz nach meinem dritten Geburtstag, als mich meine Eltern über den Zaun der Prager Botschaft in die Freiheit hoben. Ein Moment, der mein und ihr Leben grundlegend veränderte. Aber auch eine kleine Handlung, wie so viele von so vielen in dieser Zeit, die den Lauf der bundesdeutschen Geschichte nachhaltig beeinflusste.

Erinnern kann ich mich an jene schicksalhafte Stunden im Herbst 1989 nicht. Auch nicht an die entscheidenden Wochen zuvor und danach, die den Weg zur deutschen Einheit ebneten. Ich war schlichtweg zu jung. Und genau dies eint mich mit über 23 Millionen anderen jungen Deutschen.

Wir, die nach 1985 geborenen, haben keine Erinnerung an diese wichtige Zeit. Wir kennen die Leipziger Proteste, den Mauerfall, die Einigung nur aus den Erzählungen unserer Eltern, dem Geschichtsunterricht und den oft gesehenen Fernsehbildern. Oftmals fern, gar entrückt wirken diese Bilder auf uns. Wie sollte es auch anders sein? Wir sind in Frieden, Freiheit, Sicherheit und in den meisten Fällen Wohlstands- und Möglichkeitenreichtum aufgewachsen.

Das wiedervereinigte Deutschland ist unsere Realität, der geeinte Kontinent das Spielfeld unseres Lebens. Wir mussten für unsere Privilegien, Freiheiten und Werte nicht kämpfen, sie existierten bereits. Es waren Andere zu anderen Zeiten, die für sie eintraten und sie errungen. Das wirft 25 Jahre später die Frage auf: Was haben uns Jungen die Ereignisse aus dem Mauerfalljahr heute noch zu sagen?

Es kommt anders, als man denkt
 

Als meine Eltern im Herbst 1989 beschlossen, sich von Leipzig auf den nicht ungefährlichen Weg zur Prager Botschaft zu machen, verließen sie ein Land in Aufruhr. Dabei stellte sich die deutsch-deutsche Teilung in den Monaten und Jahren vor dem Zusammenbruch der DDR wie eine, im wahrsten Sinne des Wortes, festbetonierte Tatsache dar. Noch im Februar 1988 entschloss sich die CDU beispielsweise zum „Abschied von den Einheitsträumen“. Pläne zur Wiedervereinigung wurden zurückgestellt und die Vertiefung der bestehenden Kontakte zur DDR stand ganz oben auf der Agenda.

Die Sichtweise erscheint durchaus nachvollziehbar, kam es doch erst ein Jahr zuvor zu einer symbolischen Bestätigung der Zweistaatlichkeit durch den Staatsbesuch von Erich Honecker in Bonn. Auch die getroffene Vereinbarung zum Gebietstausch, der Beseitigung all jener Ex- und Enklaven, welche durch den Bau der Berliner Mauer entstanden waren, zementierte die Trennung. Das verleitete Erich Honecker auf der Tagung des Zentralkomitees der SED im Januar 1989 noch selbstbewusst dazu, zu verkünden, dass die Mauer noch 50 oder 100 Jahre bestehen bleibe.

Das war eine fatale Fehleinschätzung, wie wir heute wissen. Doch auch wir scheinen nicht davor gefeit, in eine ähnliche Falle solch eines Gegenwarts- und Geschichtsverständnisses zu tappen. Uns jungen Deutschen erscheint der gesellschaftliche Status quo oftmals stabil und festgeschrieben. Das friedliche, wohlhabende und geeinte Deutschland der letzten 25 Jahre hat uns, wie in einem Kokon gleich, vor dem Lärm und den Widrigkeiten der Außenwelt weitgehend abgeschottet. In der Folge sind unsere Denk- und Verhaltensmuster auf Konsistenz, Sicherheit und das Fortschreiben gegenwärtiger Zustände programmiert.

Nicht nur unser konservatives Wählerverhalten ist ein Indikator dafür, auch eine sinkende Selbstständigenquote, der Rückzug aus dem politischen Raum und schließlich unser „Überrascht sein“ über die Entwicklungen in der Ukraine oder dem Mittleren Osten. Veränderung scheinen wir in vielen Fällen eher skeptisch, fast ängstlich zu betrachten. Diese Prägung kann uns zum Verhängnis werden, denn der gesellschaftliche Status quo ist kein dauerhafterer Zustand, sondern nur das kurzlebige und vergängliche Abbild der gegenwärtigen Zustände. Normalität und Realität hingegen ist die ständige Veränderung. Veränderung, die schneller als wir denken, unser Leben vollkommen neu ausrichten kann – und zwangsläufig wird. Besonders wir, die junge Generation, sollten uns dieses Verständnis vom Lauf der Dinge aneignen. Das schützt vor der Enttäuschung durch falsche Erwartungen.

Individuen machen Geschichte
 

Von 1989 lernen, heißt, auch zu verstehen, dass es Menschen wie Du und Ich sind, die über den Lauf der Dinge entscheiden. Die friedliche Revolution wäre niemals ohne all die Hundertausenden Bürgerinnen und Bürger in Ost und West mit ihren kleinen und großen Taten möglich gewesen.

Unter dem tausendfachen Ruf „Wir sind das Volk“ brachten die Menschen der DDR es auf den Punkt. Nicht andere sind Träger und Verursacher des Fortschritts, sondern wir. Nicht andere sind Verantwortlich für die Zukunft, sondern wir. Nicht andere sind die Gesellschaft, sondern wir.

Uns Jungen fällt es heute oft schwer diese Wahrheit mit Leben und Aktion zu füllen, oder viel essenzieller, sie gar zu verstehen. In einer von scheinbar undurchdringlicher Komplexität geprägten Welt erscheint uns die Vorstellung befremdlich, dass wir als Individuen Einfluss auf das große Ganze nehmen können. Was können wir schon ausrichten in einer Welt der multinationalen Konzerne, der Dauerüberwachung, des sich rasant verändernden Machtgefüges? Oft fühlen wir uns ohnmächtig, überwältigt, entmündigt und klein.

In der Folge ziehen wir uns auf die Zuschauertribüne zurück, statt die Position von Akteuren einzunehmen. Wir schweigen, statt zu sprechen. Werden zu gänzlich privaten, statt öffentlichen Wesen. Wir lassen andere die Geschichte schreiben, in der wir leben werden. Wollen wir das wirklich?

Von unbeantworteten Fragen
 

Ich frage mich, was brachte meine Eltern 1989 nur dazu ihr gesamtes Leben in einen Koffer zu packen? Meine Mutter beantworte mir die Frage so: „Ich wollte einfach nicht länger schweigen. Mich machte es traurig und wütend, dass ich meine Gedanken und Ideen zum gesellschaftlichen Leben nicht frei aussprechen konnte. Wenn wir es taten, taten wir es in Hinterzimmern. So solltest auch Du nicht leben.“ Damit trat sie für etwas ein, was uns heute selbstverständlich erscheint. Die Freiheit offen über die großen gesellschaftlichen Fragen zu streiten. Fatal nur, dass wir Jungen oftmals glauben, diese Fragen seien endgültig beantwortet, denn sie sind es nicht.

Um Freiheit muss stetig gerungen, Selbstbestimmung neu erkämpft und das gesellschaftliche Miteinander täglich neu verhandelt werden. Die Digitalisierung, Europas Ringen um Zusammenhalt, die Rolle von Staat und Religion, die demografische Entwicklung mit ihren Folgen, die ökologische Krise. Diesen Fragen müssen wir uns stellen. Sie werden sich nicht von selbst beantworten. Wir, und niemand sonst, treiben das Rad der Geschichte an. Daran dürfen wir uns immer, jedoch ganz besonders an diesen Tagen, erinnern.

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