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Moralpolitik - Wer Demokratie exportiert, sät Anarchie

Der Krim-Konflikt zeigt: Die Strategie des Westens, andere Länder zwangsdemokratisieren zu wollen, ist krachend gescheitert. Kluge Außenpolitik sollte lieber auf friedliche Koexistenz mit Autokratien setzen. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel

Autoreninfo

Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaften. Seit 2005 ist er Gastprofessor an der Universität Bethlehem. 2017 erschien sein Buch „Der Westen und die neue Weltordnung“ bei Kohlhammer.

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Die westliche Außenpolitik beruht auf dem Glauben an die  Universalität von Demokratie und Menschenrechten. Hierbei werden allerdings allzu oft Wunsch und Wirklichkeit miteinander verwechselt. Die verschiedenen Weltkulturen definieren sich durch unterschiedliche Werteordnungen, in denen Rechte und Pflichten, Individualität und Kollektivität, Mensch und Gott in unterschiedlichen Rangordnungen zueinander stehen. Der westliche Universalismus wird daher von anderen Werteordnungen als Provokation empfunden.

Er verstrickt uns – wie derzeit in der Ukraine – unablässig in immer neue Konflikte, die wir kaum verstehen, geschweige lösen können. Alte staatsmännische Tugenden wie Zurückhaltung und Neutralität sind fast schon diskreditiert. Gesinnungsethische Eiferer überfordern einerseits den Westen und treiben andererseits liberale Dissidenten zu vergeblichem Widerstand. Wenn dann die Staatsmacht zuschlägt, lassen wir sie um des Friedens und des Welthandels wegen im Stich.  

Falsche Russland-Strategie


Solange die Krimkrise nur nach universalistischen und damit nach westlichen Maßstäben beurteilt wird, ist eine fortdauernde Konfrontation mit Russland unvermeidlich. Die Friedensordnung Europas wird heute über das unbedingte Beharren auf dem vom Westen recht selektiv bemühten Völkerrecht fragiler. Dieses berücksichtigt weder die geschichtliche Zugehörigkeit der Krim zu Russland noch den Willen der Krim-Bewohner, der sich in der Volksabstimmung mindestens so demokratisch geäußert hat wie bei der Absetzung der Machthaber in Kiew. Langfristig liegt der Ausweg in der Föderalisierung und der gegenseitigen Pflege der Brückenfunktion der Ukraine durch Russland und der EU. Ohne Putin wird dies nicht gelingen. Seine fortwährende Dämonisierung ist ein schlechter Ersatz für Analyse. Russland wurde immer autoritär regiert und sein Nachfolger würde nicht anders regieren können.

Ein gewisses Verständnis für die Sorgen um die Macht- und Einflusssphäre Russlands hätte genügt, um die Situation zu entspannen. Aber die Europäische Union glaubt – wie EU-Kommissionspräsident Barroso bemerkte – nicht an Einflusssphären. In diesem Geist moralisierender Naivität erneuert sie trotz der explosiven Lage ihr Assoziationsangebot an die Ukraine und plant unablässig Sanktionen gegenüber Russland.

Naive Moralpolitik


Beides wird die eigenen Interessen einer eh schon überdehnten und überforderten Union schädigen. Die naive Moralpolitik steht weltweit quer zu den Erfordernissen einer multipolaren Weltordnung. Sie behindert im Sicherheitsrat der UN die Kooperationsfähigkeit der Mächte.

Aus dem Kalten Krieg zwischen den Ideologien im 20. Jahrhundert ließe sich lernen, wie man trotz weltanschaulicher Inkompatibilitäten den Frieden bewahren kann: weder über Universalität noch Integration, und schon gar nicht über Interventionen, sondern über eine Politik der Koexistenz. Auch im Kalten Krieg galten uns Demokratie und Menschenrechte als oberste moralische Werte, gleichwohl stellte die Realpolitik jener Epoche Grenzen in Rechnung. Ihre Spielregeln ermöglichten trotz politischer Eindämmung gleichzeitige Annäherungen. Auch heute würde die politische Koexistenz inkompatibler Kulturen und konkurrierender Großmächte eine verstärkte Kooperation bei Ausbildung, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft erlauben.  

Westliches „Nation Building“ verursacht Bürgerkriege


Die militärischen Interventionen des Westens rufen angesichts der mangelnden Übertragbarkeit unserer Ideale und Strukturen interkulturelle Tragödien hervor. Die erzwungenen freien Wahlen brachten Islamisten und illiberale Demokratien an die Macht. Das frei gewählte Parlament Afghanistans führte die Scharia einschließlich der Todesstrafe für Konvertiten ein. Im demokratisierten Irak wurden die Christen als „Freunde des Westens“ verfolgt, nicht vom irakischen Staat, sondern von Al Qaida, denen gegenüber dieser demokratische, in Ethnien und Konfessionen zerrissene Staat längst ohnmächtig ist.

Die Strukturen der liberalen Demokratie beruhen auf kulturellen Voraussetzungen, die nicht einfach übersprungen werden dürfen. Auch im Westen konnten sie sich nur über schwere Rückschläge und im Verlauf von Jahrhunderten durchsetzen. Es ist reine Hybris, in anderen Kulturen dafür nicht wenigstens Jahrzehnte in Rechnung zu stellen. Die Demokratie ist das Dach, welches nicht vor den Stockwerken Aufklärung, Ausbildung, Rechtsstaatlichkeit und Gesellschaft auf das Gebäude aufgesetzt werden darf.

Das westliche „Nation Building“ nimmt in Clankulturen wie zurzeit vor allem in Afghanistan fast tragikomische Züge an. Der Machtkampf der Familien, Ethnien oder Konfessionen verlagert sich auf den Parteienwettbewerb. Auch mit wildwucherndem Oligarchentum ist dem Gemeinwohl nicht gedient. Ungeklärte Machtverhältnisse enden allzu oft in Separatismus und Bürgerkriegen. Außerhalb der westlichen Welt existieren kaum die von uns leichtfertig als Normalfall vorausgesetzten, nach universellen Prinzipien formierten Gesellschaften. Stattdessen bilden kleinere und partikulare Gruppen Überlebensgemeinschaften. Die damit notwendig verbundenen Ausgrenzungen anderer stehen unserem universalistischen Gesellschaftsverständnis entgegen.

Korruption ist auch Nächstenliebe

Auch im Westen gibt es Korruption, aber sie gilt hier als dysfunktional und als bestrafungswürdige Ausnahme. In Clankulturen ist sie notwendig, um im Alltag zu bestehen. Hier gilt es sogar als Pflicht, dem eigenen Umfeld besonders auf die Sprünge zu helfen. Diese Form der Nächstenhilfe steht im Gegensatz zur Ethik des Universalismus. Wenn Clankulturen demokratisiert werden, zählt dementsprechend nur noch das Mehrheitsprinzip. Grundrechte und Minderheitenrechte werden oft noch stärker unterdrückt als in Diktaturen, die für ihren Machterhalt auf den Ausgleich zwischen den Gruppen bedacht sind.

Die vorzeitigen Demokratisierungen haben auf dem Balkan, im Kaukasus und auch im Nahen Osten zeitweise nahezu anarchische Zustände hervorgebracht, in denen nur noch der religiöse Universalismus Gemeinsamkeit und Gerechtigkeit versprechen kann. Der Fundamentalismus nimmt selbst in ökonomisch prosperierenden Ländern Südostasiens zu. Den Jugendlichen, für die es keinen Arbeitsmarkt gibt, bleibt nur die Weltflucht. Je demütigender ihre Lage, desto fundamentalistischer muss die Dosis sein.

Die Ägypter haben aus dem Hin und Her zwischen Diktatur, Demokratisierung und Islamisierung die Konsequenzen gezogen und sich für die Rückkehr zur autoritären Herrschaft entschieden, weil diese zumindest die Chance für Stabilität und Entwicklung eröffnet. Wenn die Gotteskrieger über Syrien die Herrschaft gewinnen, wird sich die Sicherheitslage für Israel und Europa drastisch verschlechtern. Schon heute gibt der Pendelverkehr deutscher Dschihadisten, die mit terroristischem Knowhow zurückkehren, Anlass zur größten Sorge.

Der Westen umfasst mit Europa, Nordamerika und Ozeanien gerade mal ein Zehntel der Weltbevölkerung. Seine Kraft reicht, um sich als Interventionsmacht in die Wirren anderer Kulturen hineinzubegeben. Für eine Ordnung der Welt aber reicht sie nicht mehr aus. Allenfalls sind noch Feuerwehreinsätze denkbar, in denen im Rahmen von UN-Mandaten Brände gelöscht und Brandmauern gezogen werden und dann schnell wie bei der Feuerwehr der Rückzug eingeleitet werden muss.

Der Islamismus ist der Totalitarismus des 21. Jahrhunderts. Er gefährdet sowohl liberaldemokratische als auch autoritäre Herrschaftsformen, die sich der Trennung von Staat und Religion – dem säkularen Minimum der Zivilisation - verpflichtet fühlen. Der politische und kulturelle Universalismus hindert den Westen daran, systemübergreifende Koalitionen mit nicht-demokratischen, aber stabilen und berechenbaren Staaten einzugehen, die den zivilisierten Hemisphären zuzurechnen sind. Solange aber für eine Koalition gegen den Islamismus eine liberale Wertegemeinschaft gefordert wird, bleiben große Teile der Welt unsere Gegner.

Kampf der Kulturen nicht verniedlichen


Auch in Ost- und Südostasien vollzieht sich die Zivilisierung der Kulturen unter heftiger Gegenwehr des Kulturalismus, insbesondere des Islamismus, mit dem sich heute selbst China konfrontiert sieht. Beim Strategiewandel von der Demokratisierungs- zur Eindämmungspolitik sind wir auf die Zusammenarbeit mit dem ebenfalls vom sunnitischen Extremismus bedrohten Russland angewiesen. Im Atomkonflikt mit dem Iran kann ein Kompromiss bezüglich des erlaubten Grades der Urananreicherung schon technisch nur mit Hilfe Russlands gefunden werden.  

Wir können dem Kampf der Kulturen nicht länger ausweichen, indem wir ihn verleugnen oder mit schönen Begriffen wie „interkultureller Dialog“ und „Integration“ verniedlichen. Salafisten lehnen das eine wie das andere ab. Die Konflikte zwischen säkularen Staaten und islamistischen Bewegungen sind längst wichtiger als die zwischen demokratischen und autoritären Herrschaftsformen. Wie bereits im Kalten Krieg wären autoritäre Regime gegenüber totalitären Bewegungen das kleinere Übel. Frankreich hat sich zu Recht aus Afghanistan zurückgezogen, da dort keine westlichen Interessen verteidigt werden. Daher konnte es sich erst der Eindämmung des Islamismus in Afrika zuwenden. In Mali und Zentralafrika werden keine Demokratien, sondern die Minima der Zivilisation selbst verteidigt. Dabei verdient Frankreich mehr Unterstützung.

Koexistenz durch Eindämmung


Neben Eindämmung nach außen und Wehrhaftigkeit nach innen bleibt dem Westen sein Engagement für eine  Zivilisierung von Politik und Kultur. Was damit gemeint ist, erkennt man etwa in den Weltrunden der G20. Sie konnte im Falle der Weltfinanzkrise 2008 das Schlimmste verhindern, weil die politischen und kulturellen Konflikte ausgeklammert wurden. Die bloße Funktion, in diesem Fall des Währungssystems, könnte auch in vielen anderen Fällen den Minimalkonsens zwischen Nationen und Religionen, Kulturen und Mächten definieren. Nicht bei Ideologien und Identitäten, aber in den Funktionen sind globale Konvergenzen erkennbar.

Auch in der islamischen Welt geht es vielen Jugendlichen weder um Heilige Kriege noch um parlamentarische Demokratien, sondern um ihre individuelle Teilhabe an den globalen Zivilisationsprozessen. Im Ringen von Kulturalismus und Zivilisierung spielen die politischen Ideen und Strukturen des Westens nur noch eine Nebenrolle. Die Hauptrolle gebührt der immanenten Rationalität von Ausbildung, Wissenschaft, Technik und Ökonomie. Neue Eliten in Asien haben daraus längst Konsequenzen gezogen: sie gehen nicht mehr in den Westen, um Soziologie, sondern um Ingenieurwissenschaft, Betriebswirtschaft und Medizin zu studieren. Der zivilisatorische Aufstieg ist den demokratischen Staaten Südkorea und Japan, den autoritären Regimen China und Vietnam, aber auch Halbdemokratien wie Thailand oder Malaysia gelungen.

Bündnisse für die Zivilisation statt politischem Universalismus


Der Westen sollte sich zur eigenen Selbstbehauptung auf seine eigene Hemisphäre konzentrieren und zum Aufbau einer neuen globalen Friedensordnung mehr Respekt vor den neuen Machtpolen in der Welt zeigen. Je mehr sich die Staatenwelt auf ihre jeweils eigene politische Hemisphäre begrenzt, desto stärker könnte sie bei der Entwicklung rationaler Funktionssysteme kooperieren.

Aus der Dialektik zwischen dem Kampf der Kulturen und den Konflikten der politischen Mächte auf der einen Seite und der fortschreitenden Funktionalisierung und Zivilisierung der Welt auf der anderen Seite könnte eine neue Doppelstrategie des Westens abgeleitet werden: Dem Verzicht auf seinen politischen Universalismus sollte der Aufbau von Bündnissen für die Zivilisation gegenüber gestellt werden. Eine kluge Außenpolitik des Westens sollte versuchen, beide Strategien in ein Ergänzungsverhältnis zu setzen.

Heinz Theisen ist Politikwissenschaftler an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen Köln.

 

 

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