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(picture alliance) Gehen wir mit Russland zu hart ins Gericht?

Empörung über Syrien-Veto - Warum wir Russland Unrecht tun

Russlands Veto im Weltsicherheitsrat sorgte für internationale Empörung. Man muss die Auffassung Russlands nicht teilen, aber der typische „undemokratisches Russland“-Reflex greift viel zu kurz. Der Westen hat es verpasst, Russland frühzeitig einzubeziehen. Heute ist es Russland herzlich egal, was der Westen denkt. Ein Kommentar

Die Einigkeit ist groß: Russland hat sich mal wieder kräftig danebenbenommen und zeigt sein menschenverachtendes Gesicht, indem es verantwortungsvolles Handeln innerhalb der Weltgemeinschaft schamlos eigenen Interessen opfert. Bei der internationalen Empörung über Russlands Veto in Sachen Syrien gerät schon fast in Vergessenheit, dass auch China Nein gesagt hat. In der entsprechenden Berichterstattung kommt es jedenfalls kaum noch vor.

Man muss die Auffassung Russlands nicht teilen, es lässt sich auch darüber streiten, wie akzeptabel – politisch und moralisch – die Gründe sind. Aber der typische „undemokratisches Russland“-Reflex greift – wie meistens – viel zu kurz.

Was sind denn die Interessen Russlands und wie steht es um russische Erfahrungen, die in russische Politik einfließen? Geht es wirklich nur darum, auch künftig ungehindert Waffen nach Syrien zu exportieren und syrische Häfen auch mit Kriegsschiffen nutzen zu können? Ist es die Angst davor, das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer zu verletzen und damit die Tür zu öffnen für Einmischungen von außen in russische Territorien?

Wenn der türkische Außenminister auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagt, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen setze sich der Kalte Krieg fort, denn das russische Veto sei gegen den Westen gerichtet und habe nur am Rande mit Syrien zu tun, dann lohnt es sich, darüber nachzudenken, was in Russland in den vergangenen 20, 25 Jahren als gegen Russland gerichtet wahrgenommen wurde. Das nahezu grenzenlose gegenseitige Vertrauen Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, zu Zeiten des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, als es möglich war, die deutsche Einigung zu erzielen, ohne alles bis ins letzte vertraglich absichern zu können – dieses Vertrauen ist gegenseitigem Misstrauen gewichen.

Zwei Dinge haben da eine wesentliche Rolle gespielt. Zum einen war im Westen immer wieder zu hören, „wir“ haben den Kalten Krieg gewonnen. Dabei ist ein Kalter Krieg nur dann wirklich beendet, wenn sich beide Seiten als Gewinner verstehen dürfen. Sonst ist er nicht beendet. Und zum anderen wurde das gebeutelte Russland trotz gegenteiliger Beteuerungen über weite Strecken weniger als Partner denn als Konkursmasse behandelt.

Russland musste zudem die Erfahrung machen, dass man sich auf westliche Zusagen nicht verlassen kann. Die Dramatik der damaligen Auseinandersetzung zum Thema NATO-Osterweiterung ist im Westen weitgehend vergessen. In Russland ist sie immer noch mit einem Wortbruch verbunden: Von „eisenfesten“ Garantien war damals die Rede, als es um die deutsche Vereinigung ging. Und was ist daraus geworden? Die NATO-Osterweiterung hat ohne Not dafür gesorgt, dass aus den ehemals – zwanghaft – Verbündeten Gegenspieler Russlands geworden sind, die alles andere als freundschaftliche Gefühle für Moskau hegen.

Und wie sieht es in unmittelbarer Nachbarschaft Russlands aus? In Weißrussland ist mit Lukaschenko ein Psychopath an der Macht. In der Ukraine tobt ein Machtkampf zwischen Amerika-Fans und Westeuropa-Begeisterten auf der einen und Russland-Orientierten auf der anderen Seite. Kaukasus und Mittelasien sind vollgestopft mit amerikanischen Militärberatern und der Kampf ums Erdöl wird mit harten Bandagen ausgetragen. Die amerikanische Politik macht keinen Hehl daraus, überall auf der Welt mit Waffengewalt einzugreifen, wenn die USA es für geboten halten. Und jetzt: ein Raketenabwehrsystem, Zentrale im deutschen Ramstein, in das Russland nicht einbezogen ist, das ihm im Gegenteil die eigene Abschreckung kaputt macht.

Es spricht viel für folgenden Gedanken: die westliche Welt hätte Russland frühzeitig einbeziehen sollen, damals, als es nahezu ohne Wenn und Aber dazu bereit war, aber zu schwach, um darauf zu bestehen, als Partner behandelt zu werden. Die Zeiten sind vorbei. Heute ist es Russland herzlich egal, was der Westen denkt und meint.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum es nachvollziehbar ist, dass Russland demokratischen Ruck-Zuck-Entwicklungen misstraut

Russland stehen spannende, wenn nicht gefährliche Zeiten bevor. Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass sich die Mehrheit aller Russen immer noch für Putin als Präsident entscheiden wird – auch ohne das Wahlergebnis zu frisieren, aber die Gesellschaft insgesamt ist im Umbruch begriffen. Gefährlich wird es dadurch, dass diejenigen, die auf die Straße gehen und sich bemerkenswert diszipliniert auch im Umgang mit Meinungsgegnern verhalten, sich nur darin einig sind, was sie nicht wollen. Es sind keine konkreten Forderungen auszumachen, die von einer Mehrheit getragen werden. Nur: Putin weg. Und dann?

Ist es wirklich so verwunderlich, wenn Russland – eingedenk der eigenen Erfahrungen – demokratischen Ruck-Zuck-Entwicklungen im nordafrikanischen und arabischen Raum misstraut und sich nicht aufgrund einer UN-Resolution in militärische Auseinandersetzungen hineinziehen lassen will?

Der Fall Libyen ist den Russen noch sehr präsent: damals hat Russland eine UN-Resolution passieren lassen, in der von Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung die Rede war und nicht von Krieg und Bombardierung. Ist es wirklich so verwerflich, in Gesprächen nach einer Lösung zu suchen, statt auf Druck und Gewalt zu setzen, der auch weiter Unschuldige zum Opfer fallen? Bashar al-Assad hat sich selbst ins Abseits gestellt und wäre vor einem internationalen Gericht am besten aufgehoben. Aber es gibt diesen Automatismus nicht: sobald der Despot entmachtet ist, brechen paradiesische demokratische Zeiten an. Wer ist die Opposition? Sind die neuen Machthaber besser als die alten? Was ist in Ägypten? Interessiert sich noch jemand, wie es heute in Libyen aussieht?

An wie vielen Orten dieser Welt drangsalieren Tyrannen die Bevölkerung ihres Landes, wenn die nicht so will, wie sich der Alleinherrscher das vorstellt? Und nach welchen Kriterien mischt sich die westliche Wertegemeinschaft ein? Dort, wo die größte Brutalität vermutet wird? Dort, wo die zahlenmäßig meisten leiden? Dort, wo die grausame Unterdrückung am längsten dauert? Oder doch eher da, wo die eigenen Interessen an der Region am schwersten wiegen?

Was also soll man Russland vorwerfen?

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