Jean-Louis Jeanmaire - Der „Verräter des Jahrhunderts“

Heute vor 40 Jahren flog der größte Spionageskandal der Schweiz auf. Der Chef der eidgenössischen Luftschutztruppen, Jean-Louis Jeanmaire, hatte einem befreundeten sowjetischen Militärattaché geheime Dokumente übergeben. Doch der Fall ist bis heute umstritten

Autoreninfo

Von Andreas Förster ist vor Kurzem das Buch Eidgenossen contra Genossen - Wie der Schweizer Nachrichtendienst DDR-Händler und Stasi-Agenten überwachte im Berliner Ch. Links Verlag erschienen.

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Ein Winterabend, Anfang 1990. Die Mauer in Berlin ist gefallen, der eiserne Vorhang Geschichte. In einer winzigen Altbauwohnung in Bern sitzen zwei Männer um ein Käsefondue und unterhalten sich. Der eine, ein kleiner, gedrungener alter Mann, ist ein ehemaliger Brigadegeneral und Verräter. Der andere, hochgewachsen, graues Haar und buschige Augenbrauen, ein früherer Geheimagent und jetzt erfolgreicher Autor von Agentenromanen. Sie reden über Spionage, Schuld und Verrat.

Das Protokoll jenes Abends kann man nachlesen in John le Carrés Reportage „Ein guter Soldat“. Der Mann, der dem Autor in Bern das Käsefondue bereitete und ihm sein Leben erzählte, war Jean-Louis Jeanmaire, bis 1977 Brigadier der Schweizer Armee und Chef der eidgenössischen Luftschutztruppen. Und gleichzeitig der „Verräter des Jahrhunderts“, wie die Schweizer Boulevardzeitung Blick 1977 nach der Verurteilung des Offiziers zu 18 Jahren Zuchthaus wegen Landesverrats schrieb.

Informationsaustausch unter Freunden

Jeanmaire und seine Frau hatten sich 1959 mit dem russischen Militärattaché Wassilij Denissenko angefreundet, Berner Resident und Oberst des sowjetischen militärischen Geheimdienstes GRU. Es war eine enge Freundschaft, Jeanmaires Frau Marie-Louise – selbst mit russischen Wurzeln – ließ sich sogar auf ein Verhältnis mit dem GRU-Offizier ein. Der Schweizer Brigadier erfuhr erst während seines Verfahrens davon, aber er zeigte Verständnis: „Wenn ich eine Frau gewesen wäre, hätte ich selbst mit ihm geschlafen“, sagte er zu le Carré. Deni, wie Jeanmaire den russischen Offizier noch 1990 nannte, sei kultiviert gewesen, charmant, ehrenwert. „Ein Gentleman! Deni war kein Bolschewik: Er war Kavallerist, Zarist, ein Offizier der alten Schule!“

Denissenko hatte sich 1959 bei einer Luftschutzübung, zu der die in Bern akkreditierten Militärattachés eingeladen waren, an den Schweizer Offizier herangemacht. Schnell kam man sich näher, der Sowjet-Attaché spürte gleich, wie er den red- und vertrauensseligen Jeanmaire für sich einnehmen konnte. Der Schweizer, obgleich glühender Patriot und überzeugter Antikommunist, überließ seinem russischen Freund in den folgenden Jahren immer mal wieder Dokumente des Schweizer Militärs. Geld oder andere Gegenleistungen wollte Jeanmaire nicht dafür, sie seien ja schließlich Freunde. Unter den übergebenen Dokumenten befanden sich einige vertrauliche, aber auch viele, die keinerlei Geheimhaltung unterlagen. Außerdem übermittelte er seinem Freund Auskünfte über hohe militärische und politische Persönlichkeiten.

Jeanmaire und seine Frau – ein Agentenpärchen?

Den entscheidenden Tipp auf den hochrangigen Militär im Generalstab gaben die Amerikaner, auch wenn bis heute nicht klar ist, woher sie ihre Informationen hatten. Nach Recherchen des Schweizer Journalisten und Historikers Jürg Schoch, der 2006 ein Standardwerk über den Fall Jeanmaire veröffentlichte, sprach Ende Oktober 1974 der CIA-Mitarbeiter Bill Hood in Bern vor. Hood übergab dabei dem Chef der Bundespolizei, André Amstein, eine Liste mit Schweizer Personen, die seit langer Zeit den Sowjets Informationen übermittelten und nach dem Willen der Amerikaner aus dem Verkehr gezogen werden sollen. Ein Agentenpaar taucht jedoch nur mit Decknamen auf dieser Liste auf – „Mur and Mary“.

Acht Monate ermittelte die Bundespolizei auf Hochtouren, wer sich hinter „Mur and Mary“ verbergen könnte – schließlich waren die Beamten überzeugt, dass es sich nur um das Ehepaar Jeanmaire handeln könne. Aber die monatelange Überwachung ergab keine belastbaren Indizien für eine Agententätigkeit zugunsten Moskaus. Dennoch ordnete die Bundesanwaltschaft am 9. August 1976 die Verhaftung des Brigadegenerals an. Erst eine Woche später, am 16. August 1976, wurde die Festnahme öffentlich gemacht.

Forderungen nach der Todesstrafe

Die Schweizer Öffentlichkeit reagierte entsetzt und empört auf den unvergleichlichen Verratsfall. Die Empörung steigerte sich noch, als der Schweizer Justizminister Kurt Furgler am 7. Oktober vor dem Nationalrat, dem Berner Bundesparlament, die angebliche Dimension des Verrats skizzierte. Demnach habe Jeanmaire „auch aus dem Bereich der Kriegsmobilmachung … geheimste Unterlagen und Informationen geliefert“, sagte der Minister. Nun wurde sogar ganz offen die Todesstrafe für den Verräter gefordert. Schließlich sei der Eidgenossenschaft ja ein unermesslicher Schaden zugefügt worden, weil ihre Mobilmachungspläne, das Herzstück schweizerischer Landesverteidigung, in Moskau lägen.

Nach einem viertägigen Geheimprozess wurde Jeanmaire am 17. Juni 1977 von einem Divisionsgericht in Lausanne wegen Landesverrats zu 18 Jahren Haft verurteilt. Das Gericht ging damit sechs Jahre über das von der Anklage geforderte Strafmaß hinaus. Es bescheinigte dem Angeklagten, nicht aus ideologischer Überzeugung oder Geldgier gehandelt zu haben, sondern aus Charakterschwäche und Geltungssucht.

„Ich war vielleicht ein Narr, aber nie ein Verräter“

Das harte Urteil sollte im Kalten Krieg abschreckend nach innen wirken, aber es war auch ein Signal in Richtung USA. Die Amerikaner vermuteten beim Schweizer Militär seinerzeit noch mehr undichte Stellen und sorgten sich, dass ihre in die Schweiz gelieferte, zum Aufbau eines Frühwarnsystems gedachte Hochtechnologie an den Ostblock verraten werden könnte.

Über die tatsächliche Dimension des Verrats von Jeanmaire, der 1988 aus der Haft entlassen wurde, wird bis heute gestritten. Bis zu seinem Tod 1992 kämpfte er um seine Rehabilitierung – vergeblich. Jeanmaire beteuerte stets, er habe lediglich diesen „verrückten Bolschewiken im Kreml“ klarmachen wollen, dass ein Überfall auf die waffenstarrende Schweiz hohe Opfer kosten würde. „Ich war vielleicht ein Narr, aber nie ein Verräter“, sagte er zu le Carré. Auch der Historiker Schoch sieht Jeanmaire als Täter und gleichzeitig Opfer einer von Medien und Politikern ausgelösten Hysterie. Vieles von dem, was der General weitergegeben habe, sei öffentlich zugängliches und teilweise veraltetes Material gewesen oder habe nur einer geringen Geheimhaltungsstufe unterlegen. Der materielle Schaden des Verrats sei für die Schweiz eher gering gewesen.

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Bernd Fischer | Di., 16. August 2016 - 18:14

merkt das Sommerloch ist auch beim Cicero angekommen.

Folgende Annekdote aus Jalta ist überliefert:

Als Churchill vorschlug, den Papst als Verbündeten zu gewinnen, prägte jener sein wohlbekanntestes Bonmot: "In Ordnung, aber Sie wissen ja, meine Herren, dass man Kriege nun einmal mit Soldaten, Kanonen und Panzern führt. Wie viele Divisionen hat der Papst? Wenn er uns das verrät, kann er unser Verbündeter werden."

peter hauser | Mi., 17. August 2016 - 02:20

Mir sind entfernd Enzelheiten bekannt, aber mitrakulös gblieben.
Warum machen Sie aus soch einer, ich darf sagen, historistorichen Bagatelle soch ein Thema ?

Christa Wallau | Mi., 17. August 2016 - 12:27

Bei der Aufarbeitung von Spionagefällen wird immer wieder deutlich, wie stark
p e r s ö n l i c h e Motive hier eine Rolle spielen.
Liebesbeziehungen zu einem Angehörigen einer
"feindlichen" Macht lassen oft jemanden zum "Verräter" werden, aber auch Erpressbarkeit wegen eigener Vergehen. Die ganze Agentenszene basiert auf geschickter Manipulation, hat also meist mehr mit Psychologie als mit politischen Überzeugungen zu tun. Es gibt auch Menschen, für die das
Doppelspiel eines Spions mit Lust verbunden ist, d. h. einen Reiz besonderer Art bereithält. Sie sind natürlich ideal geeignet für jede Art von geheimer Schnüffelei. Andererseits sind solche Leute immer begierig auf noch mehr "Kick", nehmen also auch gern die Rolle eines
Doppelagenten an.
Schon eine sehr eigenartige Welt, die Spionage!

Heute dürfte sich das Ganze technisch immer stärker auf das "Hacken" von Computern verlagern und damit weitgehend entpersonalisieren.

Karola Schramm | Do., 18. August 2016 - 11:26

Aus einer Fliege einen Elefanten machen nennt man dramatisieren oder überzeichnen.
Wie weit das gehen kann - bis zum Ruf nach der Todesstrafe - von einer so bedächtigen und ruhigen schweizer Bevölkerung, kann man hier lesen.
Am Ende wird festgestellt, erst nach dem Tod des "Verräters", dass alles gar nicht so schlimm gewesen sei, wie dargestellt - eben dramatisiert wurde.
Diese Geschichte sollte eigentlich ein Lehrstück in Ethik sein für Journalisten, die die Macht in ihren Händen haben so oder so über Menschen zu schreiben.

Dass in diesem Fall auch der amerikanische Geheimdienst seine schmutzigen Hände im Spiel hatte, wen wundert es noch ? Mich immer wieder.

Ernst Laub | Fr., 19. August 2016 - 23:25

Noch mehr als Jeanmaires Freundschaft mit einem sowjetischen Offizier stört mich die konstante Einmischung der Amerikaner in die Geschäfte der neutralen (?) Schweiz (deren Bürger ich bin), eine Einmischung, die auch bloss auf Spionage und Bevormundung beruht. (Die Amerikaner versuchen die Schweiz so zu behandeln, als wäre sie ein Vasall wie die BRD.)

Hallo, man sagt:"Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern."
Dennoch möchte ich was zu Ihrem Satz in Klammern sagen: "Wundert Sie das ?"

Mich nicht.